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L8 Boden- und VerkehrsrechtNorm
B-VG Art101 Abs1Leitsatz
Entscheidung über Ansprüche auf Enteignungsentschädigung betrifft "civil rights"; Landesregierung kein Tribunal - nachprüfende Kontrolle durch Verwaltungsgerichtshof und Verfassungsgerichtshof genügt nicht dem durch Art6 Abs1 MRK verbürgten Zugang zu einem GerichtRechtssatz
Gemäß §9 NÖ LandesstraßenG sind für das Enteignungsverfahren die Bestimmungen des §20 Abs7 bis 15 NÖ RaumOG 1976 sinngemäß anzuwenden.
Der Verfassungsgerichtshof hat bei der Entscheidung in der Sache ua. jene Bestimmungen anzuwenden, die regeln, welche Behörde über die Enteignung und Entschädigung im Zusammenhang mit der Herstellung oder Umgestaltung einer Landeshauptstraße zu entscheiden hat, jedenfalls also §20 Abs11 NÖ RaumOG 1976.
Da sich die Bedenken nur gegen die Zuständigkeitsregelung über die Festsetzung der Entschädigung richten (nicht jedoch gegen die Verfügung der Enteignung, eines hoheitlichen Eingriffs in private Vermögensrechte aus öffentlichen Interessen - vgl. VfGH 14.10.87 B267/86, insbesondere S 15 ff., 21), reicht es hier, den letzten Halbsatz dieser landesgesetzlichen Bestimmung in Prüfung zu ziehen.
Die Entscheidung über Ansprüche auf Enteignungsentschädigung betrifft "civil rights" iSd Art6 Abs1 MRK.
Entschädigungsansprüche nach §20 NÖ RaumOG 1976 sind, soweit diese für die Enteignung von Liegenschaften oder für den zwangsweisen Entzug anderer zivilrechtlicher Rechtspositionen vom Gesetzgeber begründet wurden, als "zivilrechtliche Ansprüche" ("civil rights") nach Art6 Abs1 MRK anzusehen.
Gemäß Art6 Abs1 MRK muß über "civil rights", "von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht ('Tribunal')" entschieden werden. Es steht außer Zweifel, daß die vom NÖ RaumOG 1976 zur Entscheidung über Entschädigungsansprüche berufene Niederösterreichische Landesregierung kein Tribunal ist.
Die nachprüfende Kontrolle der Entscheidungen einer nicht als Tribunal eingerichteten Behörde über Enteignungsentschädigungen durch den Verwaltungsgerichtshof (gegebenenfalls gemeinsam mit deren Kontrolle durch den Verfassungsgerichtshof) genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art6 MRK nicht (siehe E v 24.06.88, G1/88).
Die Wortfolge ", in diesem ist auch die Höhe der Entschädigung festzusetzen" in §20 Abs11 des NÖ RaumOG 1976, LGBl. 8000-2, wird als verfassungswidrig aufgehoben.
Da der über Enteignungsentschädigungen nach §20 Abs11 NÖ RaumOG 1976 entscheidenden Landesregierung die Qualität unabhängiger und unparteiischer Tribunale nicht zukommt, die nachprüfende Kontrolle der verwaltungsbehördlichen Entscheidungen über die Enteignungsentschädigung durch den Verwaltungsgerichtshof aber dem durch Art6 Abs1 MRK verbürgten Zugang zu einem Gericht nicht genügt, ist die in Prüfung gezogene Wortfolge verfassungswidrig. Diese Wortfolge war daher als verfassungswidrig aufzuheben.
Der Verfassungsgerichtshof hält die Feststellung für notwendig, daß er mit dem EGMR (Fall Le Compte, EuGRZ 1981, 553) unter dem Aspekt des Art6 Abs1 MRK nichts dagegen einzuwenden findet, daß auch über zivilrechtliche Ansprüche nach Art einer Enteignungsentschädigung vorerst eine Verwaltungsbehörde entscheidet, sofern nur danach ein Gericht die Befugnis besitzt, über die Enteignungsentschädigung einschließlich der Entschädigungshöhe auf Grund eigener Tatsachenfeststellung zu entscheiden (so auch Matscher, Die Verfahrensgarantien der EMRK in Zivilrechtssachen, ÖZöffR 1980, 15). Ein derartiges Entschädigungsverfahren, wie es zahlreiche andere österreichische Enteignungsvorschriften kennen, sieht aber das NÖ RaumOG 1976 nicht vor.
Schlagworte
VfGH / Präjudizialität, Entschädigung (Enteignung), Straßenverwaltung, Baurecht, Raumordnung, Flächenwidmungsplan, Gericht, Landesregierung, VerwaltungsgerichtshofEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1988:G65.1988Dokumentnummer
JFR_10119375_88G00065_01