RS Vfgh 1988/12/3 B176/87

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Veröffentlicht am 03.12.1988
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Index

90 Straßenverkehrsrecht, Kraftfahrrecht
90/02 Kraftfahrgesetz 1967

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art7 Abs1 / Verwaltungsakt
MRK österr Vorbehalt zu Art5
MRK Art6 Abs1
MRK Art8
VfGG §88
3. KFG-Nov BGBl 352/1976 ArtIII Abs1
3. KFG-Nov BGBl 352/1976 ArtIII Abs5

Leitsatz

3. KraftfahrG-Nov., BGBl. 352/1976 idF BGBl. 253/1984; Sanktionierung der Verletzung der Gurtenanlegepflicht nach ArtIII Abs5 - verwaltungsstrafrechtliche Norm, strafrechtlicher Charakter iS des Art6 MRK; als systemkonforme Fortentwicklung vom Vorbehalt zu Art5 MRK erfaßt; dem Selbstschutz und dem Schutz Dritter dienende Maßnahme - keine unverhältnismäßige Einschränkung der Dispositionsfreiheit; zur Erreichung des im öffentlichen Interesse liegenden Zieles der Verminderung der Verkehrsunfälle mit Todes- und Verletzungsfolgen geeignet - keine Überschreitung des rechtspolitischen Gestaltungsspielraums; keine Bedenken im Hinblick auf das Gleichheitsgebot; keine gleichheitswidrige Gesetzesanwendung, kein Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens iS des Art8 Abs1 MRK

Rechtssatz

ArtIII Abs1 der 3. KFG-Novelle legt nur ein Gebot fest und knüpft an dessen Nichtbefolgung eine zivilrechtliche Folge, normiert aber nicht den Tatbestand einer Verwaltungsübertretung.

Daher kein Eingehen auf ArtIII Abs1 leg.cit. iVm Art5, 6 MRK sowie österreichischer Vorbehalt zu Art5 MRK.

Strafrechtliche Norm (hier: Gurtenanlegepflicht des ArtIII der 3. KFG-Novelle).

Um eine Norm als eine iSd Art6 MRK strafrechtliche zu werten, reicht es aus, daß sie allgemeinen Charakter aufweist, sich also nicht etwa (wie disziplinarrechtliche Normen) lediglich an eine bestimmte Gruppe von besonderem Status, sondern beispielsweise an alle Verkehrsteilnehmer richtet, ein bestimmtes Verhalten vorschreibt und diese Forderung mit einer sowohl präventiven als auch repressiven Charakter aufweisenden Sanktion verbindet. Dies gilt selbst dann, wenn nicht nur die Zuwiderhandlung geringfügig und kaum geeignet ist, dem Ansehen des Täters zu schaden, sondern auch die Sanktion vergleichsweise geringfügig ist (im Fall Ö handelte es sich um eine Geldbuße von mindestens fünf und im allgemeinen höchstens 1000 Deutsche Mark). Weder die Geringfügigkeit der Zuwiderhandlung noch die vergleichsweise Geringfügigkeit der angedrohten Sanktion vermögen auszuschließen, daß es sich um eine strafrechtliche Anklage iSd Art6 MRK handelt.

Strafrechtlicher Charakter des ArtIII Abs5 3. KFG-Novelle (Verletzung der Gurtenanlegepflicht - Verwaltungsübertretung).

Es ist nicht zweifelhaft, daß die nach dieser Vorschrift vorgesehene Strafe sowohl präventive Zwecke verfolgt als auch die Ahndung des Unrechtsgehaltes eines bestimmten - nicht von vornherein auf Angehörige bestimmter Gruppen beschränkten - Verhaltens zum Ziel hat und diesem Verhalten gegenüber ein Unwerturteil ausdrückt. Selbst nach der im gegebenen Zusammenhang am innerstaatlichen Recht orientierten Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes verleihen diese Kriterien der in Rede stehenden Vorschrift den Charakter einer verwaltungsstrafrechtlichen Norm, die sie von Vorschriften betreffend Zwangsmaßnahmen anderer Art unterscheidet (vgl. zB VfSlg. 6842/1972; siehe etwa auch VfSlg. 8198/1977).

Angesichts der vom EGMR betonten Unerheblichkeit der bloß geringen Schwere der möglichen Sanktion vermag am strafrechtlichen Charakter der gegenständlichen Norm iSd Art6 Abs1 MRK auch die vergleichsweise Geringfügigkeit dieser Sanktion nichts zu ändern.

Der österreichische Vorbehalt zu Art5 MRK umfaßt nach dem 03.09.58 erlassene Verwaltungsstrafvorschriften auch dann, wenn nach der Rechtslage in jenem Zeitpunkt eine entsprechende Verwaltungsstrafvorschrift zwar nicht bestanden hat, die neue Verwaltungsstrafvorschrift aber eine systemimmanente Fortentwicklung von damals in Geltung gestandenen Verwaltungsvorschrift darstellt (VfGH G141-142/86 vom 16.06.87; in diesem Sinn auch VwGH Z86/02/0183 vom 26.03.87 unter Berufung auf Adamovich-Funk, Österr Verfassungsrecht3, S 402).

Verwaltungsübertretung der Verletzung der Gurtenanlegepflicht (ArtIII Abs5 3. KFG-Novelle) vom österreichischen Vorbehalt zu Art5 MRK erfaßt.

Zwar fand sich im Kraftfahrgesetz 1955, BGBl. 223, das am 03.09.58 idF der Kraftfahrgesetz-Novelle 1958, BGBl. 49, in Geltung stand, keine dem ArtIII Abs5 der 3. KFG-Novelle entsprechende Verwaltungsstrafbestimmung. Bereits das Kraftfahrgesetz 1955 (KFG 1955) und die in seiner Durchführung erlassene Kraftfahrverordnung 1955 (KFV 1955) enthielten jedoch die Einrichtung und Ausrüstung von Kfz betreffende Vorschriften, die, wenngleich nicht ausschließlich, so doch jedenfalls auch dem Schutz von Leben, Gesundheit und Sicherheit des Lenkers und der mitfahrenden Personen dienten, wobei Zuwiderhandlungen gegen diese Vorschriften als Verwaltungsübertretung mit Strafe bedroht waren.

Zuwiderhandlungen auch gegen derartige Schutzvorschriften waren durch §111 KFG 1955 zu Verwaltungsübertretungen erklärt und mit Strafe bedroht.

So gesehen, handelt es sich - da die verwaltungsstrafrechtliche Sanktionierung der Verletzung der Gurtenanlegepflicht jedenfalls nicht ausschließlich dem Selbstschutz dient und insofern daher nicht mit Recht von einer "qualitativen Neuartigkeit" des Tatbestandes gesprochen werden kann (so aber 314 BlgNR XVI. GP, S 2) - bei der Normierung dieses Verwaltungsstraftatbestandes um eine Regelung, die noch als systemkonforme Fortentwicklung der am 03.09.58 in Geltung gewesenen Regelungen gelten kann.

Der Gesetzgeber hatte bei der verwaltungsstrafrechtlichen Sanktionierung der Gurtenanlegepflicht nicht allein das Ziel des Selbstschutzes, sondern überdies auch den Schutz Dritter sowie die - im öffentlichen Interesse liegende - Verringerung der Folgekosten von Verkehrsunfällen mit Todes- oder Verletzungsfolgen im Auge.

Es ist nicht ernstlich zu bezweifeln, daß die in Rede stehende gesetzgeberische Maßnahme nicht bloß nach der aus den Gesetzesmaterialien erkennbaren Intention des Gesetzgebers, sondern auch tatsächlich außer dem Selbstschutz zugleich dem Schutz Dritter dient, zumal wenn darunter außer dem Schutz von Leben, Gesundheit und Sicherheit auch die Bewahrung vor sonstigen Nachteilen verstanden wird.

Daher keine sachlich nicht gerechtfertigte Differenzierung insofern, als sonst ein lediglich eine (vorsätzliche oder fahrlässige) Selbstgefährdung oder Selbstbeschädigung darstellendes Verhalten zumindest in der Regel nicht strafrechtlich sanktioniert ist.

Kein Eingehen auf die Frage, ob der Gesetzgeber Zwangsmaßnahmen (allein) zum Schutz von Leben, Gesundheit und Sicherheit der eigenen Person überhaupt zu treffen befugt ist.

Die mit der gegenständlichen Regelung normierte, dem Schutz vor bestimmten, für den Straßenverkehr typischen Gefahren dienende Verpflichtung trifft nur Personen, die sich diesen Gefahren durch eine bestimmte Form der Teilnahme am Straßenverkehr aussetzen. Deren Dispositionsfreiheit (Entscheidung für eine bestimmte Form der Teilnahme am Straßenverkehr) wird durch diese Verpflichtung weder beseitigt noch inhaltlich (zB auf bestimmte Zeiträume) beschränkt; die Verpflichtung bezieht sich vielmehr nur auf eine Modalität der Ausübung dieser Dispositionsfreiheit. Sie belastet ihrer Art und Intensität nach den Verpflichteten nur in einem an sich geringen, die Grenzen des Zumutbaren keineswegs überschreitenden Ausmaß. Angesichts all dessen kann sie nicht als unverhältnismäßig angesehen werden.

Daß der Gesetzgeber die Regelung vertretbarerweise als zur Erreichung der angestrebten Ziele geeignet ansehen konnte, wird nach dem derzeitigen Erkenntnisstand durch die Ergebnisse der vom Bundeskanzleramt-Verfassungsdienst vorgelegten, vom Bundesministerium für öffentliche Wirtschaft und Verkehr herausgegebenen Studie von Hanreich/Käfer/Reicher, Gurt- und Helmpflicht. Sicherheitstechnische Analyse (Forschungsarbeiten aus dem Verkehrswesen, Bd 12, Wien 1987) gestützt.

Verwaltungsstrafrechtliche Sanktionierung der Gurtenanlegepflicht in ArtIII Abs5 der 3. KFG-Novelle; keine alleinige Maßnahme des Selbstschutzes, sondern auch des Schutzes Dritter; keine Beseitigung der Dispositionsfreiheit; geeignete Regelung zur Erreichung der angestrebten Ziele.

Verhängung einer Geldstrafe wegen Verletzung der Gurtenanlegepflicht gemäß ArtIII Abs5 der 3. KFG-Novelle.

Gurtenanlegepflicht; kein Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens (Art8 MRK) - (siehe Entscheidung der EKMR vom 13.12.79, EuGRZ 1980, S 170).

Verfahrenskosten waren nicht zuzusprechen, weil der von der belangten Behörde begehrte Ersatz des Aufwandes für die Vorlage der Verwaltungsakten und für die Erstattung der Gegenschrift in Beschwerdeverfahren vor dem Verfassungsgerichtshof nicht vorgesehen ist (vgl. VfSlg. 10011/1984) und eine sinngemäße Anwendung der für das Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof geltenden Kostenbestimmungen nicht in Betracht kommt (VfSlg. 7315/1974, 9488/1982).

Entscheidungstexte

Schlagworte

Kraftfahrrecht, VfGH / Kosten

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1988:B176.1987

Dokumentnummer

JFR_10118797_87B00176_01
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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