RS Vfgh 1988/12/13 B756/88, B757/88

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Veröffentlicht am 13.12.1988
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Index

10 Verfassungsrecht
10/11 Vereins- und Versammlungsrecht

Norm

B-VG Art144 Abs1 / Befehls- und Zwangsausübung unmittelb
B-VG Art144 Abs1 / Prüfungsmaßstab
StGG Art12 / Versammlungsrecht
MRK Art8
MRK Art13

Leitsatz

Art144 Abs1 zweiter Satz B-VG; ohne Anwendung oder Androhung von Gewalt durchgeführtes Fotografieren und Identitätsfeststellung der Bf.; Aufbewahren dieser Daten bloße Untätigkeit der Behörde - keine Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt; Unzuständigkeit des VfGH Art13 MRK; keine Erweiterung der Zuständigkeit des VfGH; innerstaatlicher Rechtsschutz iS des Art13 MRK kann nicht bloß durch die Möglichkeit, den VfGH anzurufen,gewährt werden Art12 StGG; Art11 MRK; Art144 Abs1 zweiter Satz B-VG; Befehl zum Verlassen des "Versammlungsortes" - vor dem VfGH bekämpfbarer Verwaltungsakt; in Form eines "Sitzstreikes" durchgeführte Information über die Probleme von Obdachlosen - Veranstaltung im Hinblick auf geplante Dauer, Zweck und tatsächlichem Verlauf keine Versammlung

Rechtssatz

Das schlichte Fotografieren im Zuge einer Amtshandlung kann nicht als Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlichr Befehls- und Zwangsgewalt iS der zitierten Verfassungsbestimmung beurteilt werden (vgl. zB VfSlg. 4696/1964, 9783/1983, 9934/1984). Anders wäre es nach dem Gesagten, wenn - was hier aber nicht der Fall war - das Fotografieren unter Anwendung von Körperkraft oder Androhung von Gewalt durchgesetzt worden wäre.

Das Gleiche gilt für die Identitätsfeststellung, die von den Polizeiorganen weder unter Anwendung von Gewalt noch unter Androhung von Gewalt durchgeführt wurde.

Auch das Aufbewahren derartiger Daten stellt - unabhängig davon, ob dies rechtmäßig oder unrechtmäßig erfolgt (vgl. hiezu VwGH 14.05.64 Zl. 771/63 und 17.06.66 Zl. 755/65) - keine Befehls- und Zwangsgewalt iS der zitierten Verfassungsbestimmung dar (im Gegensatz zur zwangsweisen behördlichen Rückbehaltung von Gegenständen und der bloßen Untätigkeit der Behörde - siehe hiezu die zitierte Vorjudikatur).

Kein RS; kein Eingehen auf die Frage, ob die Aufbewahrung von im Wege polizeilicher Identitätsfeststellungen gesammelter Daten dem Art8 MRK widerspricht (mit zahlreichen literarischen Hinweisen).

Wären die Beschwerdeführer dem Auftrag der Sicherheitswachebeamten, die Kärntnertorpassage zu verlassen, nicht nachgekommen, so hätten sie damit rechnen müssen, daß gegen sie physische Gewalt angewendet worden wäre. Dieser Auftrag (Befehl) stellt also einen beim Verfassungsgerichtshof nach Art144 Abs1 zweiter Satz bekämpfbaren Verwaltungsakt dar. In dieser Hinsicht ist daher die Beschwerde zulässig.

Allein schon die beabsichtigte Dauer der Veranstaltung (11./12. bis 24.02.88, ohne Unterbrechung) läßt darauf schließen, daß eine Versammlung weder geplant war noch stattfand (vgl. zB VfSlg. 10608/1985). Vielmehr sollten zufällig am Veranstaltungsort vorbeikommende Passanten über das Anliegen der Teilnehmer informiert werden, was für die Qualifikation einer Veranstaltung als Versammlung nicht hinreicht (vgl. zB VfGH 12.03.88 B926/87, 21.06.88 B74/88, 08.10.88 B281/88). Auch die Bezeichnung der Veranstaltung als "Sitzstreik" (der etwa zwei Wochen dauern sollte) deutet keineswegs auf den Versammlungscharakter hin. Der in den verteilten Flugzetteln angegebene Zweck der Veranstaltung, daß "Obdachlose bis 24.02. ungestört schlafen können" (nämlich in der Kärntnertorpassage), und der tatsächliche Verlauf der Veranstaltung (im wesentlichen wurde in der Passage campiert), spricht vollends gegen ihre Qualifikation als Versammlung.

Da keine Versammlung abgehalten wurde, ist es ausgeschlossen, daß die Beschwerdeführer gehindert wurden, an einer Versammlung teilzunehmen. Sie wurden demnach nicht im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Versammlungsfreiheit verletzt.

Die Beschwerdeführer bekämpfen ausschließlich jenes behördliche Vorgehen, mit dem die Beschwerdeführer gehindert worden seien, an einer Versammlung teilzunehmen. Im Hinblick auf diesen Beschwerdegegenstand ist es ausgeschlossen, daß sie in einem anderen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht verletzt wurden.

Die Nichtzuständigkeit des Verfassungsgerichtshofes zur Überprüfung polizeilicher Datenaufbewahrung ergibt sich aus Art144 Abs1 zweiter Satz B-VG und kann vom Verfassungsgerichtshof nicht überprüft werden; der Art13 MRK hat die Zuständigkeit des Verfassungsgerichtshofes nicht erweitert.

Entscheidungstexte

  • B 756,757/88
    Entscheidungstext VfGH Erkenntnis 13.12.1988 B 756,757/88

Schlagworte

Versammlungsrecht, VfGH / Prüfungsmaßstab, VfGH / Zuständigkeit

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1988:B756.1988

Dokumentnummer

JFR_10118787_88B00756_01
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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