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95 TechnikNorm
MRK Art10Leitsatz
Standesrechtlich vorgesehene Disziplinarmaßnahmen für bestimmte Meinungsäußerungen verfassungsrechtlich unbedenklich; unverhältnismäßiger Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit des Beschwerdeführers durch die Bewertung sachlicher, in gebotener Form vorgetragener Kritik an der Tätigkeit von Kollegen als Verstoß gegen StandesregelnRechtssatz
Ein verfassungsrechtlich zulässiger Eingriff in die Freiheit der
Meinungsäußerung muß sohin, wie auch der EGMR ausgesprochen hat
(Fall Sunday Times vom 26.04.1979 = EuGRZ 1979, 390; Fall Barthold
vom 25.03.1985 = EuGRZ 1985, 173),
(1) gesetzlich vorgesehen sein,
(2) einen oder mehrere der in Art10 Abs2 MRK genannten rechtfertigenden Zwecke verfolgen, und
(3) zur Erreichung dieses Zwecks oder dieser Zwecke "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" sein.
Wird eine Meinungsäußerung nach den Vorschriften des IngenieurkammerG (§§30 Abs1, 48 Abs1) bzw. des ZiviltechnikerG (§19 Abs1) disziplinär geahndet, so handelt es sich um einen "vom Gesetz vorgesehenen" Eingriff iS des Art10 Abs2 MRK. Kein Zweifel besteht ferner, daß es durch den Schutz des guten Rufes und der Rechte anderer iS des Art10 Abs2 MRK gerechtfertigt ist, Meinungsäußerungen, die gegen die Grundsätze der Kollegialität verstoßen, die also insbesondere eine unsachliche Kritik an anderen Ziviltechnikern beinhalten, für unzulässig zu erklären und mit Disziplinarstrafen zu belegen.
In Übereinstimmung mit seiner bisherigen Judikatur zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit des Disziplinarrechtes freier Berufe (VfSlg. 3290/1957, 9160/1981, 10343/1985; VfGH vom 02.07.1987, B334/86), in der diese Frage allerdings nicht näher erörtert wurde, nimmt der Gerichtshof auch an, daß es "in einer demokratischen Gesellschaft als notwendig" angesehen werden kann, abwertende, den Grundsatz der Kollegialität verletzende und die Stellung von Berufskollegen in der Öffentlichkeit benachteiligende Meinungsäußerungen im Wege einer besonderen Standesgerichtsbarkeit zu ahnden, sofern diese Meinungsäußerungen in der Art ihrer Formulierung oder in ihrem Inhalt eine unsachliche Kritik in sich bergen. Soweit die geschilderten gesetzlichen Regelungen des Disziplinarrechtes für Ziviltechniker derartige, nach Form oder/und Inhalt bedenkliche, weil Berufskollegen unsachlich benachteiligende Äußerungen hintanzuhalten geeignet sind, besteht danach ein "dringendes soziales Bedürfnis" (EGMR, Fall Sunday Times, EuGRZ 1979, 388 f; Fall Barthold, EuGRZ 1985, 174; VfSlg. 10700/1985). Standesrechtlich vorgesehene Disziplinarmaßnahmen bei bestimmten Meinungsäußerungen sind daher zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer in einer demokratischen Gesellschaft notwendig und insoweit verfassungsrechtlich zulässig.
Angesichts der besonderen Bedeutung und Funktion der Meinungsäußerungsfreiheit in einer demokratischen Gesellschaft, die auch der EGMR mehrfach (Fall Handyside vom 07.12.1976, EuGRZ 1977, 38, 42; Fall Barthold, aaO, 175; Fall Lingens vom 08.07.1986, EuGRZ 1986, 428) betonte, muß allerdings die Notwendigkeit der mit einer Bestrafung verbundenen Einschränkung der Freiheit der Meinungsäußerung - gemessen an der Entscheidung des Gesetzgebers - unter Bedachtnahme auf das in Rede stehende Grundrecht im Einzelfall außer Zweifel stehen. (So bereits VfSlg. 10700/1985 zum Verhältnis von verwaltungsstrafrechtlich ahndbarer Anstandsverletzung und Art10 MRK).
Mögen auch unter dem Blickwinkel des vorliegenden Beschwerdefalles gegen die angewendeten Rechtsgrundlagen keine verfassungsrechtlichen Bedenken bestehen, so ist der angefochtene Bescheid, - wie dies auch der ständigen Judikatur des Verfassungsgerichtshofes zur denkunmöglichen Gesetzesanwendung (VfSlg. 3290/1957, 3762/1960, 5463/1967, 9160/1981 und insbesondere 10700/1985) entspricht, - trotzdem verfassungswidrig, wenn die Behörde dem Gesetz fälschlich einen verfassungswidrigen, weil die besonderen Schranken des Art10 MRK mißachtenden, Inhalt unterstellt hat. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die durch Verwaltungsakt verfügte Beschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit über das hinausgeht, was zur Erreichung des iS des Art10 Abs2 MRK berechtigten Zweckes notwendig war (EGMR, Fall Barthold, aaO, 175), sohin dann, wenn der Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit "im Hinblick auf den damit verfolgten berechtigten Zweck unverhältnismäßig" war (EGMR, Fall Lingens, aaO, 429).
Verfassungswidrige Auslegung und Anwendung des Standes- und Disziplinarrechts der Ziviltechniker.
Gerade die unter einer besonderen öffentlichen Verantwortung tätigen Angehörigen freier Berufe, wie insbesondere die Ziviltechniker nach dem ZiviltechnikerG , sind in einer demokratischen Gesellschaft nicht vor Kritik geschützt. Vielmehr bildet die Möglichkeit zur sachl und in der gebotenen Form geäußerten Kritik ein unverzichtbares, aus der Meinungsäußerungsfreiheit nach Art10 MRK erfließendes, jedermann zustehendes Recht in einem demokratischen Gemeinwesen. Eine derartige, den Umständen nach möglicherweise geradezu gebotene sachliche Kritik an der Tätigkeit und damit auch der Qualifikation eines ziviltechnischen Sachverständigen zu üben, ist jedermann verfassungsgesetzlich gewährleistet. Umsomehr muß sie aber dem Berufsgenossen eröffnet sein, weil vielfach nur dieser über das für eine tiefgreifende Kritik erforderliche Maß an Fachwissen verfügt. Weder der Grundsatz der Kollegialität, geschweige denn die Achtung "der Ehre und Würde des Standes" können daher einen Ziviltechniker (ebenso wie Angehörige anderer freier Berufe) vor einer sachlichen, in der gebotenen Form geäußerten Kritik durch einen anderen Standesangehörigen schützen. Sosehr es angesichts der Aufgaben und angesichts des besonderen Vertrauens, das Ziviltechniker in der Öffentlichkeit genießen, berechtigt ist, "eine unsachliche oder herabsetzende Kritik an anderen Ziviltechnikern und deren Leistungen" für "unzulässig" zu erklären und diszstrafrechtlich zu ahnden, (wie dies durch Punkt 4.2. der Standesregeln iVm dem Disziplinarrecht geschehen ist), sowenig dürfen "die Grundsätze der Kollegialität" nach Punkt 4.1. der Standesregeln dahin verstanden werden, daß dadurch die sachliche, in der gebotenen Form vorgetragene Kritik eines Ziviltechnikers an der Tätigkeit eines Fachkollegen verhindert würde.
Der Gerichtshof tritt zwar der belangten Behörde nicht entgegen, wenn sie die Verwendung des Ausdrucks "Husch-Pfusch-Verfahren" und wenn sie die Behauptung des Beschwerdeführers, Fachkollegen würden beim Erstellen von Gutachten Entschädigungspositionen geflissentlich übersehen, im gegebenen Zusammenhang als "eine unsachliche und herabsetzende Kritik" versteht; wenn sie ferner auch die Übersendung eines, diese Kritik enthaltenden Schreibens an den Vorsteher des Bezirksgerichtes Bad Ischl und an den Präsidenten des Landesgerichtes Klagenfurt als "unsachliche und herabsetzende Kritik" gemäß Punkt 4.2. der Standesregeln qualifiziert und infolgedessen die Strafbarkeit dieses Verhaltens gemäß §48 IngenieurkammerG angenommen hat.
Hingegen darf das bloße Ersuchen an den Präsidenten des Landesgerichtes Klagenfurt um Kenntnisnahme eines (an das Bezirksgericht Feldkirchen adressierten) Schreibens, in dem sich der Beschwerdeführer in sachlicher und eingehender Weise mit der Sachverständigentätigkeit von Berufskollegen auseinandersetzt, ebenso wie die in diesem Zusammenhang ausgesprochene Aufforderung zur allfälligen Beurteilung der Qualifikation bestimmter Sachverständiger verfassungskonform nicht als Verstoß gegen Standesregeln verstanden werden.
Es bildet einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit des Beschwerdeführers, die Übermittlung eines Schreibens an Gerichte, in dem dieser in sachlicher Weise gegen eine konkrete Gutachtertätigkeit von Kollegen Argumente vorbringt, als Verletzung des Grundsatzes der Kollegialität und damit einer Standespflicht zu bewerten. Eine verfassungskonforme Auslegung des §30 IngenieurkammerG iVm Punkt 4.1. der Standesregeln führt zum Ergebnis, daß sich der Beschwerdeführer durch sein ihm im angefochtenen Bescheid unter Z3. zur Last gelegten Verhalten keines Disziplinarvergehens nach §48 Abs1 IngenieurkammerG schuldig gemacht hat.
Dadurch, daß die belangte Behörde den genannten Rechtsvorschriften einen dem Art10 Abs2 MRK widersprechenden und daher verfassungswidrigen Inhalt unterstellte, hat sie den Beschwerdeführer im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung verletzt.
(Anlaßfall zu VfSlg. 11933/1988)
Schlagworte
Meinungsäußerungsfreiheit, Disziplinarrecht Ziviltechniker, Berufe freie, ZiviltechnikerEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1989:B847.1987Dokumentnummer
JFR_10109697_87B00847_01