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20 Privatrecht allgemeinNorm
B-VG Art140 Abs1 / PräjudizialitätLeitsatz
Übertragung der aus den familienrechtlichen Beziehungen zwischen Eltern und minderjährigen Kindern erfließenden persönlichen Rechte an bloß einen Elternteil nach Auflösung der Ehe - kein unverhältnismäßiger Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens; klare Regelung zum Wohl des Kindes für den Streitfall; Herstellung des Einvernehmens in der Praxis weder erschwert noch ausgeschlossenRechtssatz
Ein Antrag des OGH im Sinne des Art89 Abs2 und des Art140 Abs1 B-VG auf Aufhebung eines Gesetzes aus dem Grund der Verfassungswidrigkeit hat zur Voraussetzung, daß der OGH die Gesetzesstelle, deren Aufhebung er beantragt, in einer bei ihm anhängigen Rechtssache anzuwenden hätte (vgl. zB VfSlg. 8004/1977, 8458/1978). Der Verfassungsgerichtshof ist nicht berechtigt, durch seine Entscheidung über die Präjudizialität das antragstellende Gericht an eine bestimmte Gesetzesauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung des Gerichtes in der Hauptfrage vorgreifen würde. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes darf daher ein Antrag eines (zur Antragstellung befugten) Gerichtes mangels Präjudizialität nur dann zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, daß das angefochtene Gesetz vom antragstellenden Gericht im Anlaßfall anzuwenden ist (vgl. in diesem Zusammenhang etwa VfSlg. 10066/1984 und die dort zitierte Vorjudikatur, 10296/1984, 10357/1985, 10640/1985, 11027/1986; G133/86, V57/86 vom 11. 12. 1987).
In den vorliegenden Fällen ist angesichts der Konformität der untergerichtlichen Beschlüsse die Befugnis des OGH zur Prüfung der Entscheidung des Rekursgerichtes gemäß §16 Abs1 des Gesetzes über das Verfahren in Rechtsangelegenheiten außer Streitsachen, RGBl. 208/1854, idgF, auf das Vorliegen einer offenbaren Gesetz- oder Aktenwidrigkeit eingeschränkt. Eine offenbare Gesetzwidrigkeit der beim OGH angefochtenen gerichtlichen Beschlüsse könnte aber bei Wegfall des vom OGH als verfassungswidrig erachteten Wortes "allein" im §177 Abs1 ABGB vorliegen, sodaß die beschränkte Prüfungsbefugnis des OGH einer Antragstellung nach Art140 Abs1 B-VG nicht entgegensteht.
Präjudizialität des Wortes "allein" in §177 Abs1 ABGB daher gegeben.
Dem Antrag des OGH auf Aufhebung des Wortes "allein" in §177 Abs1 ABGB idF BGBl. 403/1977 wird keine Folge gegeben.
Die Zuweisung der aus den familienrechtlichen Beziehungen erfließenden Rechte und Pflichten nach Auflösung der Ehe (oder im Fall dauernder Trennung der Eltern) an einen Elternteil allein ist ein Eingriff in das dem anderen Elternteil, aber auch dem Kind, durch Art8 Abs1 MRK gewährleistete Recht auf Achtung des Familienlebens.
Ein Eingriff in dieses Recht steht mit Art8 Abs1 MRK nur dann im Einklang, wenn er einerseits gesetzlich vorgesehen und andererseits in einer demokratischen Gesellschaft zur Erreichung eines der im Art8 Abs2 MRK taxativ angeführten Zwecke - darunter auch der Schutz der Gesundheit und der Moral sowie der Schutz der Rechte und Freiheiten anderer - notwendig ist.
Die Beurteilung der Notwendigkeit des Eingriffes ist Sache des Gesetzgebers. Der Gesetzgeber hat dabei einen rechtspolitischen Gestaltungsspielraum. Er ist von Verfassungs wegen nicht auf eine bestimmte Regelung beschränkt, vielmehr sind grundsätzlich verschiedene - verfassungskonforme - Regelungen denkbar. Den Maßstab für die Beurteilung der Zulässigkeit einer in das Recht auf Achtung des Familienlebens eingreifenden gesetzlichen Regelung bildet Art8 Abs2 MRK: Eine solche Norm entspricht dieser Verfassungsvorschrift nur dann, wenn sie zur Erreichung eines der im Art8 Abs2 MRK angeführten Zwecke "notwendig" ist.
(Mit ausführlichen Hinweisen auf Literatur und Judikatur des Verfassungsgerichtshofes, der EKMR und des EGMR zu Art8 MRK sowie zu den Gesetzesmaterialien zu §177 ABGB.)
Der Begriff "notwendig" (hier: in Art8 Abs2 MRK) ist nicht so eng zu verstehen, daß der Gesetzgeber nur auf eine ("beste") Lösung fixiert wäre:
Mehrere Gesetzesvorbehalte der MRK verwenden die Formel, daß ein bestimmter Eingriff "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" sein muß. Der Verweis auf die demokratische Gesellschaft muß dahin verstanden werden, daß den demokratisch gewählten parlamentarischen Organen der Konventionsstaaten eine Ermächtigung eingeräumt ist, notwendige Einschränkungen im Prinzip selbst zu be - stimmen. Den nationalen Organen, insbesondere auch den nationalen Gesetzgebern, ist damit ein Beurteilungsspielraum eingeräumt. Die EKMR und der EGMR überprüfen lediglich, ob die Notwendigkeit gerade des eingesetzten Mittels zum Schutz des betreffenden Gutes in überzeugender Weise nachgewiesen worden ist und eine Abwägung zwischen dem Freiheitsrecht und dem Schutzgut stattgefunden hat (Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, S 192 f) (mit Hinweisen auf die Judikatur des EGMR).
Der Verfassungsgerichtshof kommt in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des EGMR zu dem Schluß, daß eine das Grundrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens beschränkende Norm dann nicht verfassungswidrig ist, wenn der gesetzliche Eingriff zur Erreichung eines der im Art8 Abs2 MRK angeführten Zwecke geeignet und überdies adäquat ist, also dem Gebot der Verhältnismäßigkeit entspricht.
Der Verfassungsgerichtshof geht davon aus, daß ein Gericht bei Zuweisung der Rechte und Pflichten an einen Elternteil nach §177 Abs2 ABGB unter den besonderen Voraussetzungen des §176 Abs1 ABGB Verfügungen treffen kann, die die Rechte der Hauptbezugsperson einschränken (vgl. EFSlg 38.390). Dann wäre es aber nicht einzusehen, warum ein Gericht eine Vereinbarung nach §177 Abs1 ABGB nicht genehmigen könnte, die zwar eine Hauptbezugsperson festlegt, gleichzeitig aber wegen Vorliegens besonderer Umstände gebotene Beschränkungen in der Ausübung dieser Rechte vorwegnimmt, die auch das Gericht bei einer Entscheidung nach §177 Abs2 ABGB zum Wohl des Kindes treffen könnte.
Diese Regelungen ergeben in ihrem Zusammenhang eine Rechtslage, bei der der Eingriff in die Rechtssphäre des nicht mit dem Sorgerecht betrauten Elternteiles auf ein tunlichst geringes Maß beschränkt ist.
Dazu kommt noch, daß es bei Übertragung aller aus den familienrechtlichen Beziehungen zwischen Eltern und minderjährigen Kindern erfließenden rein persönlichen Rechte und Pflichten allein an einen Elternteil, den Eltern ohnehin nicht verwehrt ist, in einer Vereinbarung über das Besuchsrecht oder über Anhörungsrechte die im §178 ABGB vorgesehenen Mindestrechte auszubauen. Auch hindert sie nichts daran, trotz Übertragung der Rechte und Pflichten an bloß einen Elternteil in der faktischen Ausübung dieser Rechte und Pflichten einvernehmlich vorzugehen und auch - solange dieses Einvernehmen besteht - die gesetzliche Vertretung gegenüber Dritten nach ihrem Gutdünken (etwa durch Erteilung einer Vollmacht des gesetzlichen Vertreters an den anderen Elternteil) untereinander aufzuteilen, soferne ein Bedürfnis hiefür besteht (zB Führung eines dem Kind gehörigen Betriebes durch den Vater bei Aufrechterhaltung des Sorge- und Erziehungsrechtes der Mutter). Das Gericht könnte einem solchen faktischen einvernehmlichen Vorgehen der Eltern ohnehin nur in jenen seltenen Ausnahmsfällen entgegentreten, wenn dies dem Wohl des Kindes widerspräche.
Einem Gesetzgeber, der auf das Wohl des Kindes aus einer geschiedenen Ehe bedacht ist, kann nicht entgegengetreten werden, wenn er einvernehmliches Vorgehen geschiedener Eltern ermöglicht, aber dennoch sofort bei der Scheidung eine klare Regelung darüber anstrebt, wer Entscheidungen über das Kind zu treffen hat, falls ein Einvernehmen zwischen den Eltern nicht (mehr) besteht. Er muß nicht vorsehen, daß zunächst eine Vereinbarung der Eltern über ein gleichberechtigtes Mitspracherecht pflegschaftsbeh genehmigt und im Falle des Streites erst zu einem späteren Zeitpunkt und in einem weiteren Verfahren eine einseitige Überlassung der Rechte und Pflichten an einen Elternteil vorgesehen wird.
Ein Gesetzgeber, der unter diesen Umständen eine Regelung trifft, nach der Entscheidungen über ein Kind aus geschiedener Ehe sehr rasch von einem Elternteil getroffen werden können, hiebei aber das Einvernehmen mit dem anderen Elternteil nicht ausschließt oder erschwert, wählt ein geeignetes Mittel, um das Wohl des Kindes sicherzustellen. Der dadurch bewirkte Eingriff in das Grundrecht des anderen Elternteiles ist auch nicht unverhältnismäßig, zumal die Herstellung des Einvernehmens nicht ausgeschlossen wird und - selbst im Streitfall - der Ausschluß eines Elternteiles von den elterlichen Rechten durch eine Reihe von Bestimmungen, die ihm eine Mitwirkung ermöglichen, stark gemildert ist.
Entscheidungstexte
Schlagworte
VfGH / Präjudizialität, Familienleben, Sorgerecht für eheliche Kinder, Ehe, Grundrechte Wesensgehalt, Gesetzesvorbehalt, Rechte elterlicheEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1989:G142.1988Dokumentnummer
JFR_10109378_88G00142_01