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10 VerfassungsrechtNorm
B-VG Art27 Abs1Leitsatz
Belagerung der chilenischen Botschaft durch Demonstranten; vertretbare Annahme einer Übertretung des ArtIX Abs1 Z1 EGVG 1950; keine Anzeige als Versammlung; keine Verletzung im Recht auf persönliche Freiheit durch Festnahme und Anhaltung; keine Verletzung in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten durch Nichtbeachtung der dem Beschwerdeführer zustehenden Immunität; Mitgliedschaft der neugewählten Mitglieder des Nationalrates bis zu seiner Konstituierung nur eine potentielle; kein zweifelsfreier Nachweis der behaupteten Mißhandlung (Versetzen eines Fußtrittes durch einen Sicherheitswachebeamten); diesbezüglich Fehlen eines geeigneten BeschwerdegegenstandesRechtssatz
Keine Verletzung des Beschwerdeführers in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten durch seine polizeiliche Festnahme durch Nichtbeachtung der ihm zustehenden Immunität.
Die einschlägigen Bestimmungen der Abs1 bis 3 des Art57 B-VG stellen jeweils auf die "Mitglieder des Nationalrates" ab, denen allein Immunität zukommt. Aus dem persönlichen Geltungsbereich des Art57 B-VG ist also zu folgern, daß jemand, der dem Nationalrat (noch) nicht als "Mitglied" angehört, auch keine Immunität genießt. Die Wortinterpretation ergibt daher, daß jener Zeitpunkt entscheidet, zu dem eine (gewählte) Person die rechtliche Eigenschaft eines "Mitgliedes" des Nationalrates erlangt. Dieser Ausdruck ist - wie Widder, Mitgliedschaft und Mitgliederzahl im Österreichischen Nationalrat, in: Festschrift für Adolf J. Merkl, 1970, S 506, überzeugend darlegt - schon von seiner sprachlich-grammatikalischen Bedeutung her gesehen auf den zu bildenden Vertretungskörper bzw. auf die Rechtsbindungen innerhalb dieses Kollegiums bezogen. "Mitglied" des Nationalrates kann man erst werden, wenn sich die gesetzgebende Körperschaft konstituiert, d. h. wenn die Abgeordneten nach ihrer Wahl in der in der Verfassung und in einfachgesetzlichen Bestimmungen vorgeschriebenen Art und Weise erstmalig zusammentreten. Erst mit diesem rechtsförmlichen Zusammentritt wird der neugewählte Nationalrat rechtlich existent, werden die neugewählten Abgeordneten zu "Mitgliedern" des solcherart entstehenden Kollegialorgans. Da vor diesem ersten Zusammentritt der neugewählte Nationalrat noch nicht existiert, vielmehr gemäß Art27 Abs1 B-VG die Gesetzgebungsperiode des früheren weiterdauert, ist eine Mitgliedschaft im neuen Nationalrat so lange nicht möglich, als er nicht durch seine Konstituierung den vorangegangenen ablöst. Die Mitgliedschaft der Neugewählten kann daher bis zu diesem Zeitpunkt keine aktuelle, sondern nur eine potentielle sein. Das bedeutet, daß die nur "Mitgliedern des Nationalrates" gewährte Immunität nach Art57 (Abs2) B-VG erst mit der Konstituierung des neugewählten Nationalrates zu laufen beginnt, der Immunitätsschutz also mit der Mitgliedseigenschaft unmittelbar verknüpft ist.
In diesem Zusammenhang ist letztlich (auch) von Bedeutung, daß gemäß Art57 Abs6 B-VG die Immunität der Abgeordneten, die nach dem Gesagten mit der "Mitgliedschaft" (zum Nationalrat) einhergeht, grundsätzlich (erst) mit dem Tag des Zusammentritts des neugewählten Nationalrates endet.
Keine Verletzung des Beschwerdeführers im Recht auf persönliche Freiheit durch seine Festnahme und Anhaltung.
Vertretbare Annahme einer Übertretung des ArtIX Abs1 Z1 EGVG (Ordnungsstörung, begangen durch "Belagerung" der chilenischen Botschaft durch Demonstranten).
Angesichts der Sach- und Beweislage durfte der Zeuge R mit gutem Grund annehmen, daß der Beschwerdeführer unter den obwaltenden Verhältnissen eine Verwaltungsübertretung nach ArtIX Abs1 Z1 EGVG 1950 begangen habe. Denn es handelte sich hier zum einen beim Flur zur Botschaft um einen jederzeit von einem größeren, nicht von vornherein beschränkten Personenkreis betretbaren Raum, also um einen "öffentlichen Ort", wie ihn das Tatbild des ArtIX Abs1 Z1 EGVG 1950 voraussetzt (vgl. VfSlg. 10.419/1985; VwSlg. 6581 A/1965, VwGH 30.03.1987 Z86/10/0197), zum anderen dem äußeren Anschein nach um eine sehr beharrliche, als deutlich störend empfundene Behinderung der Freizügigkeit des Botschaftspersonals (siehe dazu VfSlg. 10.419/1985; vgl. auch Art22 und 27 des Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen, BGBl. 66/1966 (iVm Kundmachung BGBl. 237/1970), wonach der Empfangsstaat dafür Sorge zu tragen hat, daß der Friede der Missionen nicht gestört wird und der freie Verkehr (der Missionen) für alle amtlichen Zwecke gesichert ist). Dabei kommt es, wie wiederholend und vervollständigend hervorgehoben sei, nicht auf die Richtigkeit des erhobenen Vorwurfs (die tatsächliche Verübung eines Verwaltungsdelikts) an; es genügt vielmehr, daß das amtshandelnde Sicherheitsorgan in der damaligen Situation der - subjektiven - Auffassung sein durfte, die in Rede stehende Tat sei wirklich begangen worden (so die langjährige ständige Rechtsprechung: VfGH 12.06.1987 B4/85, 26.09.1988 B989/86 uvam.).
Mochte sich das dem Beschwerdeführer zur Last gelegte Verhalten (Ordnungsstörung iS des ArtIX Abs1 Z1 EGVG, begangen durch "Belagerung" der chilenischen Botschaft durch Demonstranten) auch im Zuge einer Demonstration zugetragen haben; gerechtfertigt iS des §6 VStG 1950 könnte es nur dann gewesen sein, wenn es (zur Ausübung des Rechts auf Versammlungsfreiheit im konkreten Fall unerläßl war und) den Angaben in der schriftlichen Versammmlungsanzeige (über Ort und Zeit der Veranstaltung) vollkommen entsprach. Dies aber traf nicht zu, weil die besagte Versammlung der zuständigen Behörde in Verletzung der Vorschrift des §2 VersG überhaupt nicht (schriftlich) angezeigt worden war (siehe VfGH 08.10.1988 B281/88 und 29.11.1988 B1471/88).
Zurückweisung der Beschwerde mangels Nachweislichkeit des behaupteten Zwangsaktes (Versetzen eines Fußtrittes).
Der amtshandelnde Sicherheitswachebeamte ist kraft Art6 Abs2 MRK als schuldlos anzusehen. Über den strafgerichtlichen Freispruch des Angeklagten (vom Vorwurf des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung) müßte sich der Verfassungsgerichtshof der Sache nach hinwegsetzen, wollte er dem Vorbringen des Beschwerdeführers folgen, weil der Vorwurf der Grundrechtsverletzung nach Art3 MRK im verfassungsgerichtlichen Verfahren im wesentlichen dem Anklagevorwurf (= Mißhandlung durch Versetzen eines Fußtritts) entspricht, von dem der angeklagte Beamte rechtskräftig losgezählt wurde. Für dem Urteil des Strafgerichtes widerstreitende Tatsachenfeststellungen fehlt es aber schon an geeigneten (hinreichend verläßlichen und beweiskräftigen) Verfahrensergebnissen.
Der Verfassungsgerichtshof tritt aber nicht allen in der Begründung des Urteils ausgebreiteten Überlegungen bei, namentlich nicht der Annahme, es stehe fest, daß der Beschwerdeführer im Strafverfahren gegen den amtshandelnden Sicherheitswachebeamten als Zeuge falsch ausgesagt habe. Eine derartige Feststellung läßt sich nach Meinung des Verfassungsgerichtshofes ungeachtet des Umstandes, daß die Aussagen des Beschwerdeführers in manchen Punkten divergieren und daß im Zug der einzelnen (Verwaltungs-, Gerichts-) Verfahren gewisse Unklarheiten über den Geschehensablauf letztlich bestehen blieben, auf Grund der Aussage des (ehemaligen) Sicherheitswachebeamten G H keinesfalls mit Sicherheit treffen, zumal dieser Bezichtigte nach Lage des Falles, so auch im Hinblick auf seine Persönlichkeitsstruktur (siehe dazu zB den (rechtskräftigen) Schuldspruch wegen eines Rauschdeliktes) wohl nicht uneingeschränkte Glaubwürdigkeit beanspruchen kann. Doch auch auf Grund der Aussagen der sonstigen Zeugen und des übrigen Beweismaterials ist die Unrichtigkeit der Darstellung des Beschwerdeführers nach dem gegenwärtigen Verfahrensstand nicht eindeutig feststellbar. Insgesamt steht die Schilderung des Beschwerdeführers gegen die des beschuldigten Wacheorganes, ohne daß hier die Richtigkeit der einen oder der anderen Version erweislich wäre.
Schlagworte
Mandatare, Nationalrat Mitgliedschaft, Polizeirecht, Ordnungsstörung, Versammlungsrecht, Mißhandlung, Verwaltungsstrafrecht, ImmunitätEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1989:B30.1987Dokumentnummer
JFR_10109372_87B00030_01