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57 VersicherungenNorm
B-VG Art140 Abs3 erster SatzLeitsatz
Ahndung des unbefugten Betriebes von Versicherungsgeschäften als Verwaltungsübertretung; Tatbestand bildet inhaltlich Gegenstand einer strafrechtlichen Anklage nach Art6 Abs1 MRK; nachprüfende Kontrolle durch ein Tribunal nicht ausreichend; vom Vorbehalt zu Art5 MRK nicht erfaßt; im Zeitpunkt der Abgabe des Vorbehaltes geltende Vorläuferbestimmung dem Justizstrafrecht zugehörigRechtssatz
§110 des Bundesgesetzes vom 18.10.1978, BGBl. 569, über den Betrieb und die Beaufsichtigung der Vertragsversicherung (Versicherungsaufsichtsgesetz - VAG), idF BGBl. 1986/558, wird als verfassungswidrig aufgehoben.
Die Verwaltungsübertretung des unbefugten Betriebs von Versicherungsgeschäften nach §110 VAG bildet ihrem Inhalt nach den Gegenstand einer strafrechtlichen Anklage nach Art6 Abs1 MRK. Dies erhellt bereits aus der Entstehungsgeschichte der in Prüfung gezogenen Vorschrift.
Die mit der Absicht der "Entkriminalisierung des Versicherungsaufsichtsrechtes" (so die Vorbemerkung zu §108 VAG, in: Versicherungsaufsichtsgesetz 1978, Hrsg. Pollak, 1979, 147) vom Gesetzgeber bewirkte Umwandlung des gerichtlich strafbaren Tatbestandes des §140 Abs1 VAG 1931 in den Verwaltungsstraftatbestand des §110 VAG (1978) hat am Charakter dieser Sanktion als Strafmaßnahme nichts geändert. Bei der "Geldstrafe bis 1.000.000,- Schilling" nach §110 VAG handelt es sich um keine bloß administrative Maßnahme zur Herstellung des gesetzmäßigen Zustandes. Vielmehr enthält §110 VAG auch jenes "vom Gesetzgeber dem sanktionierten Verhalten gegenüber ausgesprochene Unwerturteil", das der Verfassungsgerichtshof bereits in seinem E v 14.10.87, G181/86 ua., als für das Wesen eines Straftatbestandes iS des Art6 MRK kennzeichnend ansah.
Daß die Ahndung von Übertretungen nach §110 VAG den verfassungsgesetzlichen Garantien des Art6 MRK unterliegt, wird auch vom Vorbehalt Österreichs zu Art5 MRK nicht ausgeschlossen.
Denn dieser Vorbehalt umfaßt neben den zum Zeitpunkt der Abgabe des Vorbehaltes geltenden Verwaltungsvorschriften spätere, nach Erklärung des Vorbehaltes vom Gesetzgeber aufgestellte Verwaltungsstraftatbestände nur dann, wenn diese keine nachträgliche Erweiterung jenes materiell-rechtlichen Bereiches bewirken, der durch die Abgabe des Vorbehaltes ausgeschlossen werden sollte (VfSlg. 11369/1987, 11371/1987 und VfGH 01.10.1988, G164-166/88).
Nach Erklärung des Vorbehaltes geschaffene Verwaltungsstraftatbestände sind daher von diesem nur dann gedeckt, wenn gleichartige Straftatbestände bereits in Verwaltungsvorschriften enthalten waren, die vor dem 03.09.1958 (dem Zeitpunkt der Abgabe des Vorbehaltes) erlassen worden waren, oder wenn sich die nach dem genannten Zeitpunkt neu erlassenen gesetzlichen Verwaltungsstraftatbestände als systemimmanente Fortentwicklung der zum Zeitpunkt der Abgabe des Vorbehaltes geltenden Verwaltungsstrafvorschriften darstellen (vgl. VfSlg. 8234/1978, 10291/1984, 11369/1987, 11371/1987).
Schon der Umstand, daß zum Zeitpunkt der Abgabe des Vorbehaltes, di. zum 03.09.1958, der unbefugte Betrieb von Versicherungsgeschäften durch die Bestimmung des §140 Abs1 VAG 1931 zum Bereich des Justizstrafrechtes zählte, schließt es aus, daß sich §110 VAG, der - in seiner Fassung vor der Novelle BGBl. 558/1986 - mit 01.01.1979 in Kraft trat (§119 Abs1 VAG), als systemimmanente Fortentwicklung einer zum Zeitpunkt der Abgabe des Vorbehaltes bereits geltenden Verwaltungsstrafbestimmung verstehen läßt. Desgleichen fehlt es an einem, zum Zeitpunkt der Abgabe des Vorbehaltes geltenden gleichartigen Verwaltungsstraftatbestand. Der Verfassungsgerichtshof hält es auch schlechthin für ausgeschlossen, den Vorbehalt so zu verstehen, daß er es zuläßt, eine zum Zeitpunkt seiner Abgabe vorgesehene Zuständigkeit eines Gerichtes, - und sohin einen diesbezüglichen den Organisations- und Verfahrensgarantien der Art5 und 6 MRK entsprechenden Rechtszustand -, zugunsten einer - sei es auch im Hinblick auf den Tatbestand gleichartigen - Verwaltungsstrafbefugnis preiszugeben.
Auch die vom Gesetzgeber verfolgte Absicht der "Entkriminalisierung des Versicherungsaufsichtsrechtes" gestattet keine Deutung des Vorbehaltes zu Art5 MRK, wonach sich dieser auch auf (später) verwaltungsstrafrechtlich sanktionierte Übertretungen bezieht, die zum Zeitpunkt der Abgabe des Vorbehaltes von den Gerichten zu ahndende Straftatbestände bildeten.
Der mit dem Vollzug des §110 VAG gemäß §115 Abs1 VAG betraute Bundesminister für Finanzen kann als Regierungsorgan kein unabhängiges Tribunal iS des Art6 Abs1 MRK sein. Seine Strafbefugnis nach §110 VAG ist sohin verfassungswidrig.
Da durch die Beseitigung der Strafbefugnis der Versicherungsaufsichtsbehörde in §110 VAG die geschilderte Verfassungswidrigkeit schon deswegen nicht behoben würde, weil dadurch der Charakter des §110 VAG als Verwaltungsstrafbestimmung (vgl. auch die Überschrift über den ersten Abschnitt des 7. Hauptstücks des VAG, zu dem §110 VAG zählt) erhalten bliebe und lediglich - im Falle der Aufhebung der Worte "von der Versicherungsaufsichtsbehörde" in §110 VAG - die Zuständigkeitsbestimmung der §§26 ff VStG anzuwenden wären, ist der ganze §110 VAG als verfassungswidrig aufzuheben.
Der Anregung der Bundesregierung, gemäß Art140 Abs5 B-VG für das Außerkrafttreten des §110 VAG eine Frist von einem Jahr zu bestimmen, ist der Verfassungsgerichtshof lediglich durch Fristsetzung bis 31.03.1990 nachgekommen. Der Gerichtshof wollte damit die Fortgeltung des dem Art6 Abs1 MRK widersprechenden Rechtszustandes möglichst beschränken, gleichzeitig aber dem Gesetzgeber die Möglichkeit wahren, in verfassungskonformer Weise einen der aufgehobenen Bestimmung entsprechenden Straftatbestand rechtzeitig neu zu schaffen.
Schlagworte
Versicherungsrecht, VfGH / Prüfungsumfang Verwerfungsumfang, VfGH / FristsetzungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1989:G7.1989Dokumentnummer
JFR_10109071_89G00007_01