TE Vfgh Erkenntnis 2004/6/29 B1452/03

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Veröffentlicht am 29.06.2004
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Index

19 Völkerrechtliche Verträge
19/05 Menschenrechte

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Verwaltungsakt
B-VG Art129a
EMRK Art2
AVG §67c

Leitsatz

Verletzung im Gleichheitsrecht durch Abweisung einer Maßnahmenbeschwerde gegen die Erschießung des Sohns bzw Bruders des/r Beschwerdeführers/innen durch Organe der Bundespolizeidirektion Wien wegen Fehlens jeglicher Begründung in einem entscheidungswesentlichen Punkt

Spruch

Die Beschwerdeführer sind durch den ersten Spruchteil des angefochtenen Bescheides im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.

Der Bescheid wird insoweit aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.436,30 bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1.1. Die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter, der Zweitbeschwerdeführer der Bruder und die Drittbeschwerdeführerin die Schwester von B I, der nach dem Beschwerdevorbringen "in Folge der Ausübung unmittelbarer behördlicher Befehls- und Zwangsgewalt am 31.08.2002 um ca. 15:45 Uhr in 1010 Wien, Kreuzung Stubenbastei/Zedlitzgasse verstorben ist."

1.2. Nach dem Beschwerdevorbringen habe B I seit 1991 an einer schizoaffektiven Psychose gelitten; aufgrund dieser Krankheit habe er in unregelmäßigen Abständen Schübe der paranoiden Schizophrenie gehabt, während derer er hochgradig verwirrt gewesen sei. Am 31. August 2002 habe die Erstbeschwerdeführerin gegen

15.30 Uhr das Kommissariat Enkplatz aufgesucht, da B I wieder einen schizophrenen Anfall erlitten habe; sie habe erreichen wollen, dass ihr Sohn in eine psychiatrische Klinik eingeliefert wird.

In der Zwischenzeit habe B I die Wohnung verlassen und sei in verwirrtem Zustand barfuss durch die Stadt gelaufen. Gegen 14.45 Uhr sei er in ein Modegeschäft in der Himmelpfortgasse gegangen und habe die Eigentümerin nach ihren Autoschlüsseln gefragt. Dabei habe er auf sie einen verwirrten und gereizten Eindruck gemacht. Sie habe ihn aufgefordert, das Geschäft zu verlassen; dem habe er Folge geleistet. Etwas später habe er das Geschäft noch einmal betreten, das Geld aus der Kasse gefordert und der Frau eine Ohrfeige versetzt. Daraufhin habe sie ihren Lebensgefährten aus dem Lager zu Hilfe gerufen, was genügt habe, um B I zu vertreiben. Danach habe sie die Polizei gerufen, um den Vorfall zu melden. Gegen 15.30 Uhr habe B I versucht, einer Passantin die Handtasche wegzunehmen, was ihm jedoch nicht gelungen sei. Die Passantin habe ihn als geistig verwirrt erkannt.

In weiterer Folge sei B I die Stubenbastei entlang gegangen, wobei er von zwei Polizeibeamten zu Fuß verfolgt worden sei. Im Bereich der Kreuzung Stubenbastei/Zedlitzgasse habe die Polizei versucht, ihm mit einem Streifenwagen den Weg abzuschneiden, woraufhin er eine kleine Mineralwasserflasche (0,33 l) auf den Streifenwagen geschleudert habe. In weiterer Folge habe er einen Polizeibeamten zu attackieren versucht; dieser habe daraufhin zwei Schüsse auf B I abgegeben. B I sei im AKH an den Folgen der Schussverletzung verstorben.

1.3. Wegen der Schussabgabe mit tödlichem Ausgang erhoben die Einschreiter (Maßnahmen-)Beschwerde gemäß Art129a Abs1 Z2 B-VG an den Unabhängigen Verwaltungssenat Wien (im Folgenden: UVS). In dieser Beschwerde richteten sie sich weiters auch gegen eine am 1. September 2002 erfolgte Durchsuchung der Wohnung der Erstbeschwerdeführerin.

1.4. Mit Bescheid vom 15. September 2003 wies der UVS die Beschwerde hinsichtlich der Schussabgabe als unbegründet ab und - in einem zweiten Spruchteil - hinsichtlich der Hausdurchsuchung als unzulässig zurück.

Im Bescheid wird (nach Wiedergabe des Beschwerdeinhalts, Schilderung des Verfahrensablaufs und Wiedergabe der maßgeblichen Rechtsvorschriften) bezüglich der Schussabgabe mit tödlichem Ausgang folgender Sachverhalt festgestellt:

"Sachverhaltsfeststellung:

Aufgrund der aufgenommenen Beweise insbesondere auf Basis der vorliegenden Gerichtsgutachten der Schießsachverständigen W und B gelangt die erkennende Behörde zu der Feststellung, dass die Schussabgabe gegen den Verstorbenen gerechtfertigt war. Der Verstorbene wurde über Polizeifunk aufgrund konkreter Angaben von zwei Betroffenen wegen zweifachen versuchten Raubes gefahndet. Er war zum Fahndungszeitpunkt unbekannt. Er hat die auf ihn treffenden Polizisten attackiert, er war bewaffnet mit zwei Glasflaschen (kleinerer Bauart), wobei er eine bereits gegen den Funkwagen massiv geschleudert hatte (Beschädigung von Dach und Frontscheibe). Weiters steht als gesichert fest, dass er in einem Abstand von höchstens 2,5m (Abstand der Laufmündung zum Einschussloch) sich dem Polizeischützen näherte, wobei er diesen mit der zweiten Glasflasche attackierte, was letztlich die Schussabgabe bedingte."

Die rechtliche Beurteilung des UVS lautet in diesem Punkt wie folgt:

"Rechtliche Beurteilung:

Festzuhalten ist, dass in der Judikaturdokumentation der beiden Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts keine Entscheidungen zu

Artikel 2 EMRK aufliegen. [...]

Die erkennende Behörde hat somit im Hinblick auf die Bestimmung des §3 des Strafgesetzbuches die hiezu ergangene Rechtsprechung der ordentlichen Gerichte herangezogen. Die erkennende Behörde erachtet die für die Anwendung der Notwehr erforderlichen Parameter erfüllt, sieht sich jedoch zu der Feststellung veranlasst, dass die auf das Verschulden abzielende Beurteilung dieses Rechtsbereiches, insbesondere im Sinne der strafrechtlichen Bestimmung der Notwehr nicht im Zuständigkeitsbereich der Unabhängigen Verwaltungssenate angesetzt ist (...).

Die behauptete Rechtsverletzung liegt somit nicht vor. Auf Basis der Bestimmungen des Artikel 2 Abs2 lita der EMRK sowie des Eingriffsvorbehaltes des Artikel 8 Abs2 EMRK im Verein mit den einfachen gesetzlichen Bestimmungen des §2, §7 und §8 des Waffengebrauchsgesetzes erweist sich somit die bekämpfte Maßnahme als rechtmäßig."

2. Gegen den ersten Spruchteil des Bescheides des UVS richtet sich die vorliegende Beschwerde gemäß Art144 B-VG, in der die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz sowie ein Verstoß gegen das B I verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Leben behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des Bescheides, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof beantragt wird.

3. Der UVS hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der er zunächst der Sachverhaltsdarstellung der Beschwerdeführer widerspricht: Das Vorliegen einer schizoaffektiven Psychose möge zwar aus anamnetischer Sicht berechtigt sein, sei jedoch für die Beurteilung des Falles unerheblich, weil dieser Umstand keinem der vier involvierten Beamten erwiesenermaßen bekannt gewesen sei. Auch sei die Darlegung, in welcher Form die Erstbeschwerdeführerin im Kommissariat Enkplatz vorgesprochen habe, unrichtig. B I habe die Wohnung seiner Mutter mit zwei langen Küchenmessern verlassen; er habe ein Pensionistenehepaar attackiert und in weiterer Folge zwei Raubversuche und einen Einbruchsversuch begangen.

Auch im Übrigen tritt der UVS dem Beschwerdevorbringen entgegen und beantragt die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige (vgl. auch VfSlg. 16.109/2001) - Beschwerde erwogen:

1. Eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz kann nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (zB VfSlg. 10.413/1985, 11.682/1988) nur vorliegen, wenn der angefochtene Bescheid auf einer dem Gleichheitsgebot widersprechenden Rechtsgrundlage beruht, wenn die Behörde der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt oder wenn sie bei Erlassung des Bescheides Willkür geübt hat.

Ein willkürliches Verhalten der Behörde, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt ua. in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg. 8808/1980 und die dort angeführte Rechtsprechung; VfSlg. 10.338/1985, 11.213/1987). Darüber hinaus begründet das Unterlassen jeglicher Begründung nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes Willkür (VfSlg. 12.477/1990, 15.409/1999, 15.696/1999).

2. Dies ist dem UVS im vorliegenden Fall vorzuwerfen:

2.1. Bezüglich des entscheidungswesentlichen Sachverhalts beschränkte sich der UVS auf die oben unter I.1.4. wiedergegebenen Feststellungen. Aus diesen zog er ohne weitere Begründung den Schluss, dass "die Schussabgabe gegen den Verstorbenen gerechtfertigt war" bzw. "die für die Anwendung der Notwehr erforderlichen Parameter erfüllt" gewesen seien.

2.2. Gemäß Art2 Abs2 lita EMRK wird eine Tötung dann nicht als Verletzung des in diesem Artikel gewährleisteten Rechts auf Leben betrachtet, wenn sie sich aus einer unbedingt erforderlichen Gewaltanwendung ergibt, um die Verteidigung eines Menschen gegenüber rechtswidriger Gewaltanwendung sicherzustellen.

Die Wendung "unbedingt erforderlich" ist dabei im Sinne einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung zu verstehen, die unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalles vorzunehmen ist (s. Kopetzki in Korinek/Holoubek [Hrsg.], Österreichisches Bundesverfassungsrecht, Art2 EMRK, RZ 43 ff., mit zahlreichen Hinweisen auf Judikatur und Literatur).

Mit der Frage, ob der Schusswaffengebrauch unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falles unbedingt erforderlich war oder ob nicht gelindere Mittel zur Abwehr selbst der vom UVS angenommenen Bedrohung ausgereicht hätten, hat sich der UVS in seinem Bescheid jedoch überhaupt nicht befasst. Er hat in diesem entscheidungswesentlichen Punkt keinerlei Sachverhaltsfeststellungen getroffen und dadurch das Parteivorbringen und die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens gänzlich ignoriert. Infolge dessen hat er auch eine nachvollziehbare rechtliche Würdigung des Sachverhalts iS einer Prüfung der Verhältnismäßigkeit der bekämpften Maßnahme unterlassen, sodass der Bescheid in diesem Punkt jeglicher Begründung entbehrt.

Die Beschwerdeführer wurden dadurch im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt.

Der bekämpfte Bescheid war - im Umfang des ersten Spruchteils - schon aus diesem Grund aufzuheben.

3. Die Kostenentscheidung stützt sich auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten sind ein Streitgenossenzuschlag in Höhe von € 245,25, Umsatzsteuer in Höhe von € 376,05 und der Ersatz der gemäß §17a VfGG entrichteten Eingabengebühr in Höhe von € 180,00 enthalten.

4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Schlagworte

Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt, Bescheidbegründung, Recht auf Leben, Unabhängiger Verwaltungssenat

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2004:B1452.2003

Dokumentnummer

JFT_09959371_03B01452_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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