RS Vfgh 1989/9/30 G77/87

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Veröffentlicht am 30.09.1989
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Index

32 Steuerrecht
32/01 Finanzverfahren, allgemeines Abgabenrecht

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz / Verletzung keine
B-VG Art132
VwGG 1945 §19 Abs2
VwGG 1985 §27
Verfassung 1934 Art164 Abs3
BAO §311

Leitsatz

Anrufbarkeit des Verwaltungsgerichtshofes mit Säumnisbeschwerde bei Verletzung der Entscheidungspflicht durch eine, nicht mit Devolutionsantrag belangbare, Behörde erster Instanz gegeben; Abweisung des Antrages des Verwaltungsgerichtshofes auf Aufhebung einiger Worte in §311 Abs2 erster Satz BAO

Rechtssatz

Der Antrag auf Aufhebung der Worte "... mit Ausnahme solcher Bescheide, die auf Grund von Abgabenerklärungen zu erlassen sind (§§185 bis 206), ..." in §311 Abs2 erster Satz BAO, wird abgewiesen.

Aus dem Zusammenhang der Ausdrücke "letzte Instanz" in §19 Abs2 VwGG 1945 und "oberste Instanz" in Art164 Abs3 der Verfassung 1934 ergibt sich zweifelsfrei, daß unter der "obersten Instanz" keineswegs die nach dem hierarchischen Behördenaufbau höchste Verwaltungsbehörde zu verstehen war; mit diesem Ausdruck war vielmehr auch eine Behörde erfaßt, die in der Behördenorganisation sogar auf einer niedrigeren Stufe als die in Betracht kommende "letzte Instanz" (di. jene Behörde, gegen die sich die Bescheidbeschwerde zu richten hätte) steht. In der rechtswissenschaftlichen Literatur wurde unter der "oberste(n) Instanz, die der Beschwerdeführer anzurufen rechtlich in der Lage war" nicht nur die im Instanzenzug angerufene Behörde sowie jene Verwaltungsbehörde verstanden, an welche die Kompetenz zur Entscheidung devolviert war, sondern auch die (mit einem gegen die Säumigkeit gerichteten administrativen Rechtsbehelf nicht angreifbare) untätig gebliebene Behörde erster Instanz.

Die Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeitsnovelle 1946, BGBl. 211, verankerte die Säumnisbeschwerde verfassungsrechtlich, gab dabei aber die Konstruktion auf, das Vorliegen einer negativen letztinstanzlichen Entscheidung als Beschwerdegegenstand zu fingieren.

Die Gegenüberstellung des §19 Abs2 VwGG 1945 mit §25 VwGG idF der Novelle 1946 zeigt, daß die zur Bezeichnung der säumigen Behörde gebrauchte Wendung "oberste Instanz, die der Beschwerdeführer anzurufen rechtlich in der Lage war" unverändert beibehalten wurde. Für die Annahme, daß dieser Ausdruck einen Bedeutungswandel erfahren habe, fehlt jeglicher Anhaltspunkt. Die derart definierte "oberste Instanz" ist mit der im zweiten Satz des §27 VwGG erwähnten "säumigen Behörde" identisch und umfaßt die mit einem Rechtsmittel angerufene instanzmäßig übergeordnete Behörde, die aufgrund eines Devolutionsantrages zuständig gewordene sachlich in Betracht kommende Oberbehörde sowie die (mit einem gegen die Säumigkeit gerichteten administrativen Rechtsbehelf nicht angreifbare) untätig gebliebene Behörde erster Instanz.

Nach Ansicht des Verfassungsgerichtshofes bietet der Wortlaut des Art132 (erster Satz) B-VG überhaupt keinen Anlaß, eine wie auch immer geartete Einschränkung des Rechtsschutzes durch den Verwaltungsgerichtshof gegen die Untätigkeit einer zur Bescheiderlassung verpflichteten Behörde außerhalb des Falles anzunehmen, daß noch Abhilfe gegen die Untätigkeit bei einer Verwaltungsbehörde beansprucht werden kann.

Beachtet man den Grund für die vorgenommene Änderung der Wendung in §27 VwGG idF der Novelle 1946 "oberste Instanz, die der Beschwerdeführer anzurufen rechtlich in der Lage war" in "oberste Behörde, die im Verwaltungsverfahren, sei es im Instanzenzug, sei es im Weg eines Antrages auf Übergang der Entscheidungspflicht, angerufen werden konnte", so bestand er in einer Verdeutlichung und Präzisierung im Sinne der gegebenen Gesetzeslage unter Bedachtnahme auf die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes; keinesfalls kann der Änderung jedoch die Absicht unterstellt werden, den mit administrativen Rechtsbehelfen nicht bekämpfbaren Fall einer Säumigkeit der Behörde erster Instanz aus dem verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz auszuschalten und auf die - gewiß weniger schutzbedürftigen - Fälle zu beschränken, in denen ein Rechtsmittel oder ein Devolutionsantrag unerledigt geblieben ist. Eine solche Beschränkung kann auch nicht mit der allgemeinen Annahme gerechtfertigt werden, daß der sich aus Art131 Abs1 B-VG ergebende Grundsatz, der Verwaltungsgerichtshof sei erst nach Erschöpfung des verwaltungsbehördlichen Instanzenzuges zur Entscheidung berufen, sinngemäß auf Art132 B-VG zu übertragen sei.

Auch das verfassungskonforme Verständnis der in Erörterung stehenden Wendung im §27 VwGG 1985 führt zum Ergebnis, daß die ausdrücklich angeführten Fälle der Anrufung der sodann säumigen Behörde im Instanzenzug oder durch einen Antrag auf Übergang der Entscheidungspflicht nicht als eine erschöpfende, sondern bloß als eine demonstrative Aufzählung von Säumnisfällen zu werten ist. Aus den dargelegten Gründen vermag der Verfassungsgerichtshof sohin der vom Verwaltungsgerichtshof in dessen Beschluß Z82/16/0007 vom 18.02.1982 (Anw. 1982 S 526 f mit Glosse des Beteiligten) ausgedrückten Rechtsauffassung nicht beizutreten, der Verwaltungsgerichtshof könne im Fall, daß die (nicht mit Devolutionsantrag belangbare) Behörde erster Instanz ihre Entscheidungspflicht verletzt, mit Säumnisbeschwerde bloß dann angerufen werden, wenn diese Behörde zugleich (die sachlich in Betracht kommende) "oberste Behörde" ist. Der Verfassungsgerichtshof pflichtet vielmehr der von Ringhofer (Der Verwaltungsgerichtshof, 1955, S 182 und 184) und Oberndorfer (Die österreichische Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1983, S 80 mit ausdrücklicher Bezugnahme auf §311 BAO) vertretenen gegenteiligen Anschauung bei.

Was die vom Verwaltungsgerichtshof unter dem Aspekt des Gleichheitsgebotes geltend gemachten verfassungsrechtlichen Bedenken anlangt, ist seine Annahme von der rechtlichen Undurchsetzbarkeit bestimmter Ansprüche im Fall der Behördensäumigkeit nur auf dem Boden seiner vorhin erwähnten Rechtsprechung zu verstehen, welche die Anrufbarkeit des Verwaltungsgerichtshofes mit Säumnisbeschwerde bei nicht mit Devolutionsantrag bekämpfbarer Untätigkeit der Behörde erster Instanz verneint. Da diese Annahme vom Verfassungsgerichtshof aus den schon angeführten Gründen nicht geteilt wird, erweist sich in diesem Sinn die Prämisse der Bedenken des Verwaltungsgerichtshofes als nicht tragfähig.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Finanzverfahren, Entscheidungspflicht, Verwaltungsverfahren, Verwaltungsgerichtshof, Säumnisbeschwerde, Begriffsumschreibungen, Devolution

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1989:G77.1987

Dokumentnummer

JFR_10109070_87G00077_01
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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