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10 VerfassungsrechtNorm
B-VG Art144 Abs1 / Befehls- und Zwangsausübung unmittelbLeitsatz
Abnahme eines Transparentes durch Sicherheitswachebeamte anläßlich eines Festaktes zur Enthüllung eines Denkmals; Anfechtbarkeit dieser Maßnahme als Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt; Gewährleistung des Versammlungsrechtes ua durch Anspruch auf Schutz vor Gegendemonstrationen; staatliche Schutzpflicht hinsichtlich aller, als Versammlungen im weiteren Sinn anzusehenden Zusammenkünfte von Menschen, also auch hinsichtlich Festakten; Wertung eines der Ausübung des Versammlungsrechtes zuwiderlaufenden Verhaltens als Ordnungsstörung; Notwendigkeit der Wahl des gelindesten Mittels, der Interessenabwägung und der Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips sowie der Bewirkung des geringstmöglichen Grundrechtseingriffs bei der Ausübung der staatlichen Schutzpflicht; denkmögliche Annahme einer Ordnungsstörung im vorliegenden Fall; Abnahme des Transparentes als geeignetes, maßhaltendes Mittel zur Abwendung der Störung der Veranstaltung; keine Verletzung der MeinungsäußerungsfreiheitRechtssatz
Das gewaltsame Abnehmen eines Transparentes durch Sicherheitswachebeamte stellt eine als Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt zu qualifizierende Maßnahme dar.
Auch das Zeigen von Transparenten, auf die Parolen geschrieben sind, fällt in den Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit.
Das Wegnehmen des Transparentes greift in das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Meinungsfreiheit ein.
Der einen Eingriff in das Recht auf Meinungsfreiheit bewirkende Verwaltungsakt wäre dann verfassungswidrig, wenn der Verwaltungsakt ohne jede Rechtsgrundlage ergangen wäre, auf einer dem Art10 MRK widersprechenden Rechtsgrundlage beruhte oder wenn die Behörde beim Setzen des Verwaltungsaktes eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hätte; ein solcher Fall läge auch vor, wenn die Behörde dem Gesetz fälschlich einen verfassungswidrigen - hier also: die besonderen Schranken des Art10 Abs2 MRK mißachtenden - Inhalt unterstellt hätte (s. zB VfSlg. 3290/1957, 10700/1985; vgl. auch die Judikatur zu Art8 MRK, zB VfSlg. 11638/1988).
Art11 MRK (der u.a. das Recht aller Menschen gewährleistet, sich friedlich zu versammeln) umfasst grundsätzlich einen Anspruch auf staatlichen Schutz von Demonstrationen vor Gegendemonstrationen, um die wirksame Ausübung des Demonstrationsrechtes zu sichern; eine wirkliche und tatsächliche Freiheit zu friedlicher Versammlung beschränkt sich nicht auf die einfache Pflicht der Nichteinmischung des Staates; eine rein negative Auffassung ist mit dem Zweck und dem Ziel von Art11 leg.cit. nicht vereinbar (siehe EGMR vom 21.06.88, Nr. 5/1987/128/179, EuGRZ 1989, 522 ff. - "Plattform 'Ärzte für das Leben'").
Die innerstaatlich im Verfassungsrang stehende Norm internationalen Ursprungs des Art11 MRK erfaßt nicht bloß Versammlungen, die in Österreich unter das Versammlungsgesetz 1953 fallen, sondern alle nach dem üblichen Sprachgebrauch als Versammlungen angesehenen Zusammenkünfte von Menschen (in diesem Sinne auch das oben zitierte Urteil des EGMR vom 21.06.88), also jede organisierte einmalige Vereinigung mehrerer Menschen zu einem gemeinsamen Ziel an einem bestimmten Ort. Daraus folgt, daß auch Festakte unter Art11 MRK fallen.
Das bedeutet, daß die staatlichen Organe nicht nur befugt, sondern auch verpflichtet sind, die zum Schutz erlaubter Versammlungen (im erwähnten weiten Sinn) erforderlichen Maßnahmen zu treffen, also deren Abhaltung zu garantieren.
Ohne staatlichen Schutz wäre das - gegen Störungen von dritter Seite besonders empfindliche - Recht auf Versammlungsfreiheit entweder faktisch überhaupt wirkungslos, oder aber die Versammlungsteilnehmer müßten ihr Recht durch Selbsthilfe durchsetzen.
Die Annahme aber, die Bundesverfassung verhalte vom Grundsatz her den einzelnen zur Selbsthilfe, weil der Staat nicht einzuschreiten habe, ist mit der Friedens- und Ordnungsfunktion des Staates schlechterdings unvereinbar.
Aus Art11 MRK ergibt sich die Pflicht des Staates, erlaubte Versammlungen zu schützen.
Der Gesetzgeber ist verhalten, die Vollzugsbehörden zu Maßnahmen zu ermächtigen, die der erwähnten Schutzpflicht dienen, und die Behörden wenigstens in den Grundzügen anzuleiten, welche Schritte sie zu setzen haben, um Versammlungen gegen Störungen zu schützen.
Wegen der verfassungsrechtlichen Pflicht, Versammlungen behördlich zu schützen, ist Art IX Abs1 Z1 EGVG 1950 dahin zu verstehen, daß ein der Ausübung des Versammlungsrechtes zuwiderlaufendes Verhalten als Ordnungsstörung zu werten ist. Das Verbot der Ordnungsstörung gemäß dieser Gesetzesbestimmung ermächtigt (im Einklang mit dem Gesetzesvorbehalt des Art10 Abs2 MRK) die Behörde, Maßnahmen zur Abwehr von Störungen einer Versammlung zu treffen. Diese Vorschrift ist zwar nach ihrem Wortlaut eine Verwaltungsstrafnorm, bei verfassungskonformer Auslegung ergibt sich aber, daß sie die Sicherheitsbehörden berechtigt und verpflichtet, auch solchen ordnungsstörenden Verhaltensweisen, die sich im Rahmen einer Versammlung ereignen, mit den jeweils gelindesten noch zum Ziel führenden polizeilichen Maßnahmen entgegenzutreten.
Art IX Abs1 Z1 EGVG 1950 ermächtigt sohin zu polizeilichem Einschreiten, das dem Schutz von Versammlungen dient. Dies allerdings nur innerhalb bestimmter Schranken, die zunächst darin zu finden sind, daß die Maßnahmen zur Erreichung des Zieles, den ungestörten Verlauf der Versammlung zu gewährleisten, geeignet und adäquat sein müssen und über dieses Ziel nicht hinausgehen dürfen. Die zur Wahrnehmung dieser Schutzpflicht von den Behörden zu ergreifenden polizeilichen Maßnahmen müssen ferner in praktischer Konkordanz mit jenen Grundrechten (etwa der Meinungsäußerungsfreiheit oder dem Eigentumsrecht) stehen, in die durch die Maßnahmen eingegriffen wird; die Maßnahmen müssen so beschaffen sein, daß sie den geringstmöglichen Eingriff in andere Grundrechte bewirken.
Eine Versammlung ist mit jenen Mitteln zu schützen, die bei objektiver Betrachtung einen angemessenen Ausgleich zwischen den zu wahrenden, vielfach divergierenden Interessen bewirken. Solche Interessen sind in erster Linie jene des Veranstalters und der ihm nahestehenden Versammlungsteilnehmer, jene von Gruppen, die in oder mit der Versammlung andere als die vom Veranstalter angestrebten Ziele durchsetzen wollen und jene der Allgemeinheit, durch die Versammlung möglichst wenig tangiert zu werden; außerdem ist zu berücksichtigen, über welche Einsatzmöglichkeiten die Behörde jeweils verfügt und welche ihr zumutbar sind. Aus dem zu beachtenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergibt sich, daß es dabei einerseits auf die besondere Art der jeweils konkret zu schützenden Versammlung oder Veranstaltung, andererseits auf die Art der erwarteten oder bereits eingetretenen Störung ankommt; diese beiden Aspekte sind gegeneinander abzuwägen.
Die Polizeibeamten konnten vertretbarerweise annehmen, daß die Beschwerdeführer und ihre Gruppe ("HOSI") den vom Veranstalter vorgegebenen Charakter des Festaktes zur Enthüllung des Mahnmals gegen Krieg und Faschismus ändern wollten und daß daher deren Verhalten unter den gegebenen Umständen bereits als Störung der besonders sensiblen Festveranstaltung zu werten sei; die Beamten konnten weiters denkmöglich annehmen, daß sich die übrigen Teilnehmer mit Unmutsäußerungen vorerst zurückhielten, um den Festakt nicht (noch mehr) zu stören.
Die Abnahme des Transparentes war ein geeignetes Mittel, die - angenommene - Störung der Veranstaltung abzuwenden; diese Maßnahme war auch maßhaltend, weil sie das gelindeste Mittel war, die als störend angenommene Aktion der Beschwerdeführer zu beenden.
Das Entfernen des Transparentes erfolgte in Befolgung der sich aus Art11 MRK ergebenden behördlichen Pflicht, erlaubte Versammlungen vor Störungen zu schützen, und in denkmöglicher Handhabung des Art IX Abs1 Z1 EGVG; die Beschwerdeführer wurden demnach nicht im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Meinungsfreiheit verletzt.
Dem (durch die Finanzprokuratur vertretenen) obsiegenden Bund waren (außer den Kosten für die Gegenschrift) die Kosten lediglich für eine Rechtshilfetagsatzung zuzusprechen, weil die weiteren beiden Rechtshilfetagsatzungen entbehrlich gewesen wären, wenn die belangte Behörde die Zeugen bereits in der Gegenschrift und nicht erst nach und nach bekanntgegeben hätte.
Schlagworte
Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt, Versammlungsrecht, Veranstaltungen, Schutzpflicht (bei Versammlungen), Polizeirecht, Polizeirecht - Wahl des gelindesten Mittels, Ordnungsstörung, Meinungsäußerungsfreiheit, Grundrechte (Grundrechtsverständnis), Interessenausgleich, Verhältnismäßigkeitsprinzip, Auslegung verfassungskonforme, VfGH / KostenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1990:B20.1989Dokumentnummer
JFR_10098988_89B00020_01