RS Vfgh 1990/12/6 G223/88, G235/88, G33/90, G63/90, G144/90

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Veröffentlicht am 06.12.1990
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Index

66 Sozialversicherung
66/01 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
BetriebspensionsG
GleichbehandlungsG
ASVG §236
ASVG §253b

Leitsatz

Aufhebung von Regelungen über das unterschiedliche Pensionsalter von Mann und Frau wegen Verstoßes gegen den Gleichheitssatz; kein adäquater Ausgleich für die Doppelbelastung sowie für eine allfällige erhöhte körperliche Beanspruchung der Frau; keine Rechtfertigung durch biologische Gründe; jedoch Zulässigkeit differenzierter Pensionsregelungen als Ausgleich für eine erhöhte physische oder psychische Belastung bestimmter Personengruppen; besondere Bedeutung des Vertrauensschutzes im Pensionsrecht; keine sofortige Gleichsetzung des Pensionsalters von Frau und Mann

Rechtssatz

Die Wortfolge "bei männlichen, vor Vollendung des 50. Lebensjahres bei weiblichen Versicherten" im §236 Abs1 Z1 lita und die Wortfolge "bei männlichen, nach Vollendung des 50. Lebensjahres bei weiblichen Versicherten" im §236 Abs1 Z1 litb sowie die Wortfolge "bei männlichen Versicherten bzw. nach Vollendung des 50. Lebensjahres bei weiblichen Versicherten" im §236 Abs2 Z1 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes - ASVG, BGBl. Nr. 189/1955 idF BGBl. Nr. 484/1984, und schließlich die Wortfolge "nach Vollendung des 60. Lebensjahres, die Versicherte" im §253b Abs1 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes - ASVG, BGBl. Nr. 189/1955 idF BGBl. Nr. 609/1987, werden als verfassungswidrig aufgehoben.

Die Aufhebung tritt mit Ablauf des 30. November 1991 in Kraft.

Der unterschiedliche Eintritt in das Pensionsalter kann im Erwerbsleben zu einer Zurücksetzung der Frau führen und damit einen weiteren Anlaß zu ihrer Diskriminierung geben.

Das System der Pensionsversicherung nach dem ASVG beruht nicht allein auf dem Versicherungsprinzip, sondern auch auf dem Versorgungsgedanken, was sich etwa schon daran zeigt, daß die Mittel der Pensionsversicherungsträger nicht allein durch Beiträge der Versicherten, sondern wesentlich auch durch einen Beitrag (Zuschuß) des Bundes (§80 ASVG) aufgebracht werden. Schon aus diesem Grund kann der Gesetzgeber, ohne mit dem Gleichheitsgrundsatz in Widerspruch zu geraten, bei der Gestaltung des Leistungsrechtes auch sozialpolitische Ziele verwirklichen und etwa unterschiedliche Belastungen von Personen oder Personengruppen im Arbeitsleben bei der Gestaltung des Leistungsrechtes berücksichtigen. Hiebei kann der Gesetzgeber eine Durchschnittsbetrachtung anstellen. Härtefälle können ebenso unberücksichtigt bleiben wie Einzelfälle einer Begünstigung (vgl. hiezu VfSlg. 8871/1980).

Viele Frauen waren und sind aufgrund ihrer traditionellen gesellschaftlichen Rolle besonderen Belastungen durch die Haushaltsführung und Obsorge für Kinder ausgesetzt. Auch bei der gebotenen Durchschnittsbetrachtung ist aber die Festlegung eines unterschiedlichen Pensionsalters für Frauen und Männer kein geeignetes Mittel, um den Unterschieden in der gesellschaftlichen Rolle der Frauen und Männer angemessen Rechnung zu tragen.

Was immer der Grund dafür gewesen sein mag, daß der Unterschied im tatsächlichen Pensionszugangsalter zwischen Männern und Frauen weit unter fünf Jahren liegt, das Verfahren hat jedenfalls keinen Anhaltspunkt dafür ergeben, daß die besondere Belastung durch die Haushaltsführung und Obsorge für Kinder tatsächlich durch das niedrigere Pensionszugangsalter von Frauen abgegolten wird. Das niedrigere Pensionsanfallsalter für Frauen kommt eher jener Gruppe von Frauen zugute, deren Berufslaufbahn nicht durch Haushaltsführung und Obsorge für Kinder unterbrochen war, die also mehr Versicherungszeiten erwerben konnten als jene Frauen, deren Belastung abgegolten werden soll.

Selbst eine Durchschnittsbetrachtung rechtfertigt aber nicht eine (scheinbare oder wirkliche) Begünstigung aller Frauen in gleicher Weise, also eine rein geschlechtsspezifische Differenzierung, wohl aber würde sie eine nach der Art der Tätigkeit differenzierende Regelung rechtfertigen (vgl. zB ArtVII des Nachtschicht-Schwerarbeitsgesetzes).

Die bestehenden Unterschiede im gesetzlich festgelegten Pensionsalter lassen sich daher auch nicht durch biologische Gründe rechtfertigen.

Es fällt in den rechtspolitischen Gestaltungsfreiraum des Gesetzgebers, unterschiedliche Belastungen von Personen oder Personengruppen im Arbeitsleben bei Gestaltung des Leistungsrechtes der Pensionsversicherung entsprechend zu berücksichtigen.

Die angefochtenen Regelungen, die allgemein bloß nach dem Geschlecht unterscheiden und Frauen als eine einheitliche Gruppe Männern gegenüberstellen, berücksichtigen in Wahrheit nicht jene Besonderheiten, die zu ihrer Rechtfertigung dienen sollen. Sie kommen vorwiegend jenen Frauen zugute, deren Rollenbild sich von jenem der Männer nicht unterscheidet, während jene Frauen, die durch Haushaltsführung und Obsorge für Angehörige besonders belastet sind, von solchen Regelungen in wesentlich geringerem Maße Gebrauch machen können. Das unterschiedliche Maß der Belastung von Frauen und die tatsächliche körperliche Beanspruchung findet in derart undifferenzierten Regelungen keinen Niederschlag. Solche Regelungen sind daher ungeeignet, den aufgezeigten faktischen Besonderheiten Rechnung zu tragen. Der Gesetzgeber kann allerdings, ohne gegen den Gleichheitsgrundsatz zu verstoßen, von einer Durchschnittsbetrachtung ausgehend Nachteile, die Gruppen von Personen im Arbeitsleben etwa durch erhöhte physische oder psychische Belastung typischerweise erleiden, durch eine entsprechende Gestaltung des Leistungsrechtes und dabei etwa auch durch Festlegung eines niedrigeren Pensionsanfallsalters abgelten.

Den angefochtenen - bloß nach dem Geschlecht differenzierenden - Regelungen fehlt jedoch die sachliche Rechtfertigung. Sie verletzen den Gleichheitsgrundsatz und waren daher aufzuheben.

Der Gesetzgeber ist durch den Gleichheitsgrundsatz keineswegs gehalten, sogleich und schematisch für Männer und Frauen das gleiche Pensionsalter festzusetzen. Eine sofortige schematische Gleichsetzung des gesetzlichen Pensionsalters für Männer und Frauen wäre dem Gesetzgeber sogar verwehrt, weil er damit den Schutz des Vertrauens in eine im wesentlichen über Jahrzehnte geltende gesetzliche Differenzierung verletzen würde. Dem Vertrauensschutz kommt aber gerade im Pensionsrecht besondere Bedeutung zu.

Der Gesetzgeber muß bei Schaffung einer alle verfassungsrechtlichen Aspekte berücksichtigenden einfachgesetzlichen Rechtslage den Abbau der Unsachlichkeit der bisherigen Regelung einerseits und den Vertrauensschutz andererseits gegeneinander abwägen. Diese Abwägung fällt in seinen rechtspolitischen Gestaltungsfreiraum. Er kann für jene Personen, die dem Pensionsalter nahe sind, im Sinne des Vertrauensschutzes auf der Grundlage des geltenden Verfassungsrechtes die bisherigen Unterschiede im Pensionsalter aufrecht erhalten, wenn - und nur wenn - er gleichzeitig Regelungen schafft, die einen allmählichen Abbau der bloß geschlechtspezifischen Unterscheidung bewirken.

Die Frage, ob der Gleichheitssatz des Art7 Abs1 B-VG iVm Art2 StGG nicht zumindest in Teilbereichen eine gewisse Harmonisierung des Sozialversicherungsrechtes mit Regelungen betreffend Pensionssysteme gebietet, die die gesetzliche Pensionsversicherung ergänzen sollen (so der ausdrückliche Wille des Gesetzgebers nach §1 Abs1 des Betriebspensionsgesetzes), ist von den Bedenken der antragstellenden Gerichte nicht umfaßt. Daher hatte der Verfassungsgerichtshof auch diese Frage nicht abschließend zu beurteilen. Der Gesetzgeber wird aber bei einer Neuregelung des Pensionsanfallsalters die Frage der Harmonisierung (innerstaatlicher) arbeitsrechtlicher und (innerstaatlicher) sozialversicherungsrechtlicher Bestimmungen in seine Überlegungen einbeziehen müssen (mit Hinweisen auf das GleichbehandlungsG, die Gleichbehandlungsrichtlinie vom 9. Februar 1976, 76/207/EWG, Abl. Nr. L 39/76, S. 40, der Europäischen Gemeinschaften, Urteil des EuGH vom 17. Mai 1990, C-262/88, Douglas Harvey Barber vs. Guardian Royal Exchange Assurance Group, in welchem ausgesprochen wurde, daß es gegen das Gleichbehandlungsgebot des Art119 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft verstoße, wenn in einem privaten Betriebspensionssystem nach dem Geschlecht unterschiedliche Altersvoraussetzungen vorgesehen sind, auf das BetriebspensionsG und die Richtlinie vom 24. Juli 1986, 86/378/EWG, Abl. Nr. L 225/86, S. 40).

Entscheidungstexte

Schlagworte

Sozialversicherung, Pensionsversicherung, Pensionsalter, Rechte wohlerworbene, Vertrauensschutz, Gleichheit Frau-Mann, geschlechtsspezifische Differenzierungen, Arbeitsrecht, Gleichbehandlung, Betriebspension

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1990:G223.1988

Dokumentnummer

JFR_10098794_88G00223_01
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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