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27 RechtspflegeNorm
B-VG Art83 Abs2Leitsatz
Verletzung im Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter durch Sachentscheidung über ein unzulässiges Rechtsmittel gegen einen Rückstandsausweis einer Rechtsanwaltskammer betreffend Beiträge zu einer Versorgungseinrichtung; Rückstandsausweis kein Bescheid sondern ExekutionstitelSpruch
Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.
Der Bescheid wird aufgehoben.
Die Tiroler Rechtsanwaltskammer ist schuldig, dem Beschwerdeführer die mit € 2340,- bestimmten Prozesskosten innerhalb von 14 Tagen bei sonstigem Zwang zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1.1. Der Beschwerdeführer gehört der Tiroler Rechtsanwaltskammer an.
Mit Rückstandsausweis der Abteilung II des Ausschusses der Tiroler Rechtsanwaltskammer vom 1. April 2003 wurden dem Beschwerdeführer rückständige Beiträge für die Versorgungseinrichtung Teil B (Zusatzpension) für das 3. und 4. Quartal 2001 und für das Jahr 2002 sowie Verzugszinsen und ein Säumniszuschlag in Höhe von € 5.072,21 (zuzüglich 6 % Zinsen seit dem 2. April 2003 aus @ 4.360,37) vorgeschrieben.
1.2. In der dagegen ausdrücklich als Vorstellung bezeichneten Eingabe wandte sich der Beschwerdeführer gegen die Vorschreibung dieser Beiträge. Er begründete dies ua. damit, dass die Festsetzung der Höhe der Beiträge für die Rückversicherung im Rahmen der Zusatzpensionsversicherung in verfassungs- und gesetzwidriger Weise nicht durch die Tiroler Rechtsanwaltskammer, sondern durch eine private Versicherungsgesellschaft erfolgt sei. Die Gutschriften für die Gewinnbeteiligung an der Rückversicherung seien in gleichheitswidriger Weise pauschal auf die Konten der einzelnen Rechtsanwälte der Tiroler Rechtsanwaltskammer aufgeteilt worden, ohne Rücksichtnahme darauf, ob der einzelne Rechtsanwalt tatsächlich auch Beiträge für die Rückversicherung geleistet hätte. Im Übrigen sei die Vorschreibung der Zusatzpension schon deshalb unzulässig, weil man im Zeitpunkt der Abstimmung darüber in der Vollversammlung der Tiroler Rechtsanwaltskammer von ganz anderen Grundlagen ausgegangen sei, als zum nunmehrigen Zeitpunkt.
1.3. Der Vorstellung des Beschwerdeführers wurde mit Bescheid des Plenums des Ausschusses der Tiroler Rechtsanwaltskammer vom 11. Dezember 2003 keine Folge gegeben und der amtliche Ausweis über rückständige Beiträge des Beschwerdeführers zur Gänze bestätigt.
2. Dagegen richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, in der die Verletzung bestimmter verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides begehrt wird.
3. Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der sie für die Abweisung der Beschwerde eintritt.
II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:
1.1. Das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird durch den Bescheid einer Verwaltungsbehörde verletzt, wenn die Behörde eine ihr gesetzlich nicht zukommende Zuständigkeit in Anspruch nimmt oder in gesetzwidriger Weise ihre Zuständigkeit ablehnt (zB VfSlg. 9696/1983), etwa indem sie zu Unrecht eine Sachentscheidung verweigert (zB VfSlg. 10374/1985, 11405/1987, 13280/1992).
1.2. Ein derartiger Fehler ist der belangten Behörde aus folgenden Gründen unterlaufen:
Die Abteilung II des Ausschusses der Tiroler Rechtsanwaltskammer stützt den Rückstandsausweis vom 1. April 2003 auf ArtVIII des Gesetzes vom 16. November 1906, RGBl. Nr. 223, "womit einige Bestimmungen des Disziplinarstatuts für Advokaten und Advokaturskandidaten vom 1. April 1872, R.G.Bl. Nr. 40 und der Advokatenordnung vom 6. Juli 1868, R.G.Bl. Nr. 96, abgeändert und ergänzt werden". Diese - als eine Novelle zur RAO (vgl. die §§1, 3 und den Anhang zum Ersten Bundesrechtsbereinigungsgesetz, BGBl. I Nr. 191/1999) - noch in Geltung stehende Bestimmung lautet:
"Die von den Ausschüssen der Advokatenkammern ausgefertigten amtlichen Ausweise über rückständige Beiträge, welche die Kammermitglieder auf Grund gültiger Kammerbeschlüsse an die Advokatenkammer zu leisten haben (§27, litd der Advokatenordnung vom 6. Juli 1868, R.G.Bl. Nr. 96), sind Exekutionstitel im Sinne des §1 des Gesetzes vom 27. Mai 1896, R.G.Bl. Nr. 79."
Der hier von der Abteilung ausgestellte Rückstandsausweis ist demnach ein Exekutionstitel im Sinne des §1 EO. Nach ständiger Rechtsprechung des Verfassungs- und des Verwaltungsgerichtshofs sind Rückstandsausweise keine Bescheide (vgl. VfSlg. 9673/1983, 11177/1986, 12991/1992, 13527/1993; VwSlg. 2252 A/1951, 10297 A/1980, VwGH 15.10.1999, 96/19/0758), sondern sie stellen bloß aus den Rechnungsbehelfen der Behörde gewonnene Aufstellungen über Zahlungsverbindlichkeiten dar. Sie entfalten ihre Wirkung erst im Vollstreckungsverfahren, das zugleich die Möglichkeit ihrer verwaltungsbehördlichen Überprüfung im Wege (exekutionsrechtlicher) Einwendungen eröffnet (vgl. dazu näher VfSlg. 3816/1960 sowie VwGH 15.10.1999, 96/19/0758; Funk, Der Verwaltungsakt im österreichischen Rechtssystem [1978], 68 f., mit weiteren Angaben). Zur Entscheidung darüber ist die Behörde zuständig, von der der Exekutionstitel ausgegangen ist (VwGH 15.10.1999, 96/19/0758). Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs steht es dem Schuldner einer in einem Rückstandsausweis ausgewiesenen Leistungsverpflichtung überdies frei, einen Feststellungsbescheid über das Bestehen bzw. Nichtbestehen der Verpflichtung zu erwirken (VwGH 29.6.1993, 93/11/0007).
Der Beschwerdeführer hat hier jedoch keine (exekutionsrechtliche) Einwendung gegen den Rückstandsausweis an die zuständige Abteilung erhoben, sondern - ausdrücklich - das nur gegen Bescheide in §26 Abs5 RAO eingeräumte Rechtsmittel der Vorstellung - welches auf die ersatzlose Behebung des Rückstandsausweises gerichtet war - an die für das Rechtsmittelverfahren gesetzlich vorgesehene Behörde zweiter Instanz (sodass auch eine Umdeutung der Vorstellung nicht in Betracht kommt; so ebenfalls zur selben Rechtslage VwGH 15.10.1999, 96/19/0758). Die hier vom Beschwerdeführer erhobene Vorstellung wäre daher von der belangten Behörde mangels Vorliegens eines bekämpfbaren Bescheides zurückzuweisen gewesen.
Indem die belangte Behörde eine Sachentscheidung über das unzulässige Rechtsmittel traf, nahm sie eine Zuständigkeit in Anspruch, die ihr nach der RAO nicht zukam. Der Beschwerdeführer wurde daher durch den angefochtenen Bescheid im Sinne der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt (vgl. VfSlg. 8891/1980, 12221/1989, 14885/1997, 16028/2000).
1.3. Der angefochtene Bescheid des Ausschusses (Plenum) war daher als verfassungswidrig aufzuheben.
2. Bei diesem Ergebnis erübrigt es sich, auf das Beschwerdevorbringen im Einzelnen einzugehen.
3. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VfGG. Von den zuerkannten Kosten entfallen € 360,- auf die Umsatzsteuer und € 180,-
auf die entrichtete Pauschalgebühr.
4. Dies konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.
Schlagworte
Bescheidbegriff, Exekutionsrecht, Rechtsanwälte VersorgungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2004:B302.2004Dokumentnummer
JFT_09959072_04B00302_2_00