RS Vfgh 1991/2/27 G135/90, G136/90, G137/90, G138/90, G139/90, G140/90, G141/90, G207/90, G208/90

JUSLINE Rechtssatz

Veröffentlicht am 27.02.1991
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Index

27 Rechtspflege
27/01 Rechtsanwälte

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
MRK Art6 Abs1 / Verfahrensgarantien
RAO §16 Abs2 idF BGBl 570/1973
RAO §16 Abs3
RAO §46

Leitsatz

Feststellung der Gleichheitswidrigkeit des §16 Abs2 RAO wegen unterschiedlicher Belastung von Rechtsanwälten als Verfahrenshelfer; keine vernachlässigbaren Härtefälle; keine Gleichheitskonformität durch die Bestellung mehrerer Rechtsanwälte als Verfahrenshelfer; allfälliger Widerspruch zu fair trial und Standespflichten bei arbeitsteiliger Ausübung der Pflichtverteidigung durch mehrere Verfahrenshelfer; keine Bedenken gegen eine Pauschalvergütung im Rahmen der Verfahrenshilfe

Rechtssatz

§16 Abs2 RAO vom 6. Juli 1868, RGBl. Nr. 96 idF BGBl. Nr. 570/1973, war verfassungswidrig.

Die den Rechtsanwälten gemäß §16 Abs2 RAO obliegende Verpflichtung, im Falle ihrer Bestellung zum Verfahrenshelfer die Vertretung oder Verteidigung einer mittellosen Partei zu übernehmen, besteht auch dann, wenn zufolge besonderer Umstände (zB Komplexität des Verfahrensgegenstandes) Prozesse und Strafverfahren eine weit über dem Durchschnitt liegende Dauer erreichen, und wenn eine sorgfältige Vertretung oder Verteidigung einen ungewöhnlich hohen Arbeitsaufwand erfordert.

Solche Fälle besonders umfangreicher und arbeitsintensiver Vertretungen und Strafverteidigungen, die Verfahrenshelfer wochen- und auch monatelang in Anspruch nehmen, stellen - selbst unter Berücksichtigung des Umstandes, daß sie eher selten vorkommen - keine Härtefälle dar, die aus der Sicht des Gleichheitsgrundsatzes vernachlässigbar wären (vgl. zB VfSlg. 7012/1973, 8352/1978, 8806/1980).

Die Beigebung eines Verfahrenshelfers dient Interessen der Rechtspflege; bei komplizierten und langdauernden Verfahren besteht ein besonderes Interesse der Rechtspflege daran, daß auch Parteien, die nicht über die Mittel zur Bezahlung eines Beistandes oder Verteidigers verfügen, ein solcher beigegeben wird. Es ist dem Verfahrenshilfesystem somit immanent, daß Rechtsanwälte als Verfahrenshelfer insbesondere auch in solchen Fällen mit einer Vertretung oder Verteidigung betraut werden, die einen überdurchschnittlich hohen Arbeitsaufwand für sie nach sich ziehen.

Die Verpflichtung zur Übernahme einer Verfahrenshilfe in Prozessen von überdurchschnittlich langer Dauer stellt besonders dann eine große Belastung dar, wenn Rechtsanwälte erst relativ kurz in die Liste eingetragen sind und (oder) ihren Beruf nicht in einer Kanzleigemeinschaft ausüben. Die Belastungen durch die Bestellung zum Verfahrenshelfer im Rahmen eines Pauschalvergütungssystems, das zudem auch in solchen Fällen kein Recht auf Ablehnung oder Enthebung vorsieht, können sich in wochen- oder monatelangen Verfahren existenzbedrohend auswirken.

Dem Gleichheitsgebot wird auch dadurch nicht Rechnung getragen, daß bei Verfahrenshilfen von überlanger Dauer entweder mehrere Rechtsanwälte gleichzeitig zum Verfahrenshelfer bestellt werden können, oder aber daß die Bestellung für einzelne Verfahrensabschnitte erfolgen könne.

Eine solche Vorgangsweise ist jedenfalls dann mit den Verpflichtungen, die einem Rechtsanwalt in Vertretung einer Partei obliegen, nicht vereinbar, wenn dadurch die Wahrung der Interessen des Mandanten und damit die Effektivität der Vertretung beeinträchtigt sein kann; dies ergibt sich aus den allgemeinen Berufspflichten eines Rechtsanwaltes, für bestellte Strafverteidiger darüber hinaus auch aus Art6 MRK.

Verfahrenshelfer sind verpflichtet, die Vertretung oder Verteidigung der Partei "mit der gleichen Sorgfalt wie ein frei gewählter Rechtsanwalt zu besorgen". Die Bestellung mehrerer Rechtsanwälte als Verfahrenshelfer erlaubt es diesen somit nicht, die Vertretung oder Verteidigung nur deshalb arbeitsteilig auszuüben, weil ihnen für Leistungen als Verfahrenshelfer kein Anspruch auf individuelle Honorierung zusteht; dies würde die Rechtsanwälte mit ihren Standespflichten in Konflikt bringen.

Die MRK ist nicht dazu bestimmt, theoretische oder illusorische Rechte zu garantieren, sondern gewährt vielmehr Rechte, die konkret sind und Wirksamkeit entfalten. Dies gilt insbesondere für Rechte der Verteidigung im Hinblick auf die herausragende Stellung, die das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren in einer demokratischen Gesellschaft einnimmt, dem jene Rechte entstammen (vgl. Airey-Urteil vom 9.10.1979, EuGRZ 1979, S. 626 ff.; Artico-Urteil vom 13.5.1980, EuGRZ 1980, S. 662 ff.).

Gegen eine Pauschalvergütung der im Rahmen der Verfahrenshilfe erbrachten Leistungen, durch die nicht die Leistung des einzelnen, sondern die der Rechtsanwaltschaft in ihrer Gesamtheit abgegolten wird und die daher jedem Rechtsanwalt - gleichgültig, ob und in welchem Umfang er Verfahrenshilfe geleistet hat - zugute kommt, bestehen keine grundsätzlichen Bedenken (vgl. schon VfSlg. 6945/1972, S. 1312).

(Anlaßfälle: B1286/89, B1569/89, B50/90, B94/90, B288/90, B349/90, B602/90, B692/90, B978/90, alle E v 08.03.91 - Aufhebung der angefochtenen Bescheide)

Entscheidungstexte

Schlagworte

Rechtsanwälte Pflichtverteidigung, Pflichtverteidigung, fair trial

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1991:G135.1990

Dokumentnummer

JFR_10089773_90G00135_01
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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