RS Vfgh 1991/6/27 G158/91, G159/91, G160/91, G161/91, G162/91

JUSLINE Rechtssatz

Veröffentlicht am 27.06.1991
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Index

30 Finanzverfassung, Finanzausgleich
30/02 Finanzausgleich

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art140 Abs1 / Allg
B-VG Art140 Abs1 / Präjudizialität
B-VG Art140 Abs1 / Prüfungsgegenstand
B-VG Art140 Abs7 zweiter Satz
GebietsänderungsG
F-VG 1948 §4
F-VG 1948 §12 Abs1
FAG 1985 §8
FAG 1985 §8 Abs3 vorletzter Satz idF der Nov 1986
FAG 1989 §8 Abs3 vorletzter Satz
FAG 1985 §21
FAG 1989 §21

Leitsatz

Gleichheitswidrigkeit der finanzausgleichsrechtlichen Begünstigung der "Wiener Randgemeinden" bei Verteilung der Ertragsanteile an gemeinschaftlichen Bundesabgaben seit dem FAG 1989; keine sachliche Rechtfertigung der Unterscheidung zwischen den ehemals zu Wien gehörenden Gemeinden und anderen Gemeinden in ähnlicher geographischer Lage; Notwendigkeit der Beseitigung bzw des schrittweisen Abbaus der privilegierenden Verteilungsregelung durch den Gesetzgeber ab dem FAG 1989 im Hinblick auf die vorangegangenen Finanzausgleichsverhandlungen; keine Gleichheitswidrigkeit der analogen Regelung im FAG 1985 angesichts mangelnder Vorberatungen und damit entsprechender Finanzplanung der betroffenen Gemeinden; Nichterreichung des Ziels der Herbeiführung eines bundesweiten Ausgleichs zwischen den den Gemeinden zustehenden Finanzmitteln durch Gewährung der als Schlüsselzuweisungen zu wertenden Finanzzuweisungen gemäß §21 FAG 1985 und FAG 1989 auf Grund der länderweisen Vorverteilung nach der Volkszahl; keine Aufhebung des §21 FAG 1985 und FAG 1989, andernfalls Störung des Gesamtsystems des Finanzausgleichs und damit Widerspruch zu §4 F-VG 1948

Rechtssatz

Es ist zulässig, finanzausgleichsrechtliche Forderungen einer Gebietskörperschaft gegen die andere mit Klage beim Verfassungsgerichtshof darauf zu stützen, daß das die Teilungsvorgänge zwischen den Gebietskörperschaften regelnde Gesetz verfassungswidrig sei - gleichgültig, ob ein Organ der beklagten Gebietskörperschaft oder jenes einer anderen das Gesetz zu verantworten hat.

Um zu beurteilen, ob den klagenden Gebietskörperschaften die von ihnen behaupteten vermögensrechtlichen Ansprüche gebühren, hätte der Verfassungsgerichtshof jeweils §8 Abs3 vorletzter Satz FAG 1985 idF der Nov 1986 und FAG 1989 anzuwenden.

Durch das GebietsänderungsG, BGBl 110/1954, wurden Gebiete, die 1938 der Stadt Wien einverleibt worden waren, als eigene Gemeinden an das Land Niederösterreich rückgegliedert. Mit der 2. FAG-Nov 1954, BGBl 150, wurde für diese Gemeinden ("Wiener Randgemeinden") eine finanzausgleichsrechtliche Begünstigung eingeführt: Ihnen gebührte bei Bildung des (für die Verteilung der Ertragsanteile an den gemeinschaftlichen Bundesabgaben maßgebenden) abgestuften Bevölkerungsschlüssels der höchste, nämlich der für Gemeinden mit über 50.000 Einwohnern sowie für die Stadt Wien geltende Vervielfältiger. Diese Begünstigung wurde in den folgenden Finanzausgleichsgesetzen beibehalten.

§8 Abs3 vorletzter Satz FAG 1989 wird wegen Widerspruchs zu Art7 B-VG und §4 F-VG 1948 aufgehoben.

Die Belastungen, die daraus resultieren, daß der Anteil von Einwohnern, die in den ehemals zu Wien gehörenden Gemeinden bloß ihren Zweitwohnsitz haben, relativ hoch ist (bis zu 30 %), sowie andere denkbare, aus der Nähe einer größeren Stadt resultierende Belastungen treffen viele andere, nahe einem Ballungszentrum gelegenen Gemeinden in gleicher, wenn nicht in noch stärkerer Weise.

Aus der Nähe der Großstadt Wien ergeben sich nicht für alle Randgemeinden (besondere) Belastungen.

Ob die Gemeinden einmal zu Wien gehört haben, rechtfertigt allein jedenfalls nicht die pauschalierende Begünstigung.

Finanzausgleichsrechtliche Regelungen, die auf eine Paktierung zurückgehen, sind verfassungsrechtlich nicht unangreifbar.

Nach dem E v 12.10.90, G66/90, liegt eine Verfassungswidrigkeit dann vor, wenn einzelne Detailvorschriften zueinander in sachlich nicht rechtfertigbarem Widerspruch stehen, wenn einzelne Gebietskörperschaften gezielt bevorzugt oder benachteiligt wurden, oder wenn die notwendigen Anpassungen an die geänderten tatsächlichen Verhältnisse nicht vorgenommen oder wenigstens in die Wege geleitet wurden.

Die sachlich ungerechtfertigte Bestimmung (§8 Abs3 vorletzter Satz FAG 1989) des (paktierten) Finanzausgleiches geht nicht über Details hinaus. Die Finanzausgleichspartner mußten die Unsachlichkeit spätestens bei Beratung über das FAG 1989 wahrnehmen.

Der Gesetzgeber hätte ab dem FAG 1989 die die Wiener Randgemeinden privilegierende besondere Verteilungsregel des §8 Abs3 vorletzter Satz beseitigen oder zumindest deren schrittweisen Abbau vorsehen müssen. Jedenfalls aber hätte er erwägen müssen, ob dem am 15.09.89 - in Abänderung der bisherigen Vereinbarung - geschlossenen Pakt Rechnung getragen werden soll; bei Realisierung dieses Paktes wäre die - nicht mehr länger sachlich zu rechtfertigende - Privilegierung der Wiener Randgemeinden schrittweise beseitigt worden. Die Wiener Randgemeinden konnten sich seither bei ihrer Finanzplanung nicht mehr auf die Beständigkeit der sie begünstigenden Regelung verlassen.

Die Verfügung, daß §8 Abs3 vorletzter Satz FAG 1989 nicht mehr anzuwenden ist, erfolgte zum einen deshalb, um zu bewirken, daß alle betroffenen Gebietskörperschaften (gleichgültig, ob für sie aufgrund erhobener Klagen die Anlaßfallwirkung einträte oder nicht) gleich behandelt werden; dies ist hier ausnahmsweise deshalb geboten, weil für einen sehr großen Teil der von der als verfassungswidrig erkannten Norm Betroffenen die Anlaßfallwirkung gegeben, diese also nicht bloß die Ausnahme wäre. Zum anderen wäre die aufgrund der Aufhebung gebotene Rückabwicklung der zu viel und zu wenig aus dem Finanzausgleich bezahlten Beträge verwaltungsökonomisch kaum zu bewerkstelligen, wenn nicht die Rechtslage für alle betroffenen Gebietskörperschaften gleich gestaltet wäre.

§8 FAG 1985 (in der Stammfassung) wurde bereits einmal vom Verfassungsgerichtshof (mit Erkenntnis VfSlg. 10 633/1985) aufgehoben.

Geprüft wird hier aber nicht das seinerzeit aufgehobene Gesetz, sondern ein anderes, wenngleich inhaltlich gleiches Gesetz (ein Teil des §8 FAG 1985 idF der Novelle 1986). Es kommt also nicht darauf an, welche Bestimmung seinerzeit der Sitz einer bestimmten Verfassungswidrigkeit war, sondern darauf, welche Norm der Rechtsgrund für die nunmehr geltend gemachten Forderungen ist, ob nämlich eine schon einmal vom Verfassungsgerichtshof aufgehobene oder eine andere Gesetzesbestimmung. Und das ist nun eben nicht mehr §8 FAG 1985 id Stammfassung, sondern §8 FAG 1985 idF der Nov 1986.

§8 Abs3 vorletzter Satz FAG 1985 idF der Nov BGBl 384/1986, war nicht verfassungswidrig.

Die Frage des Weiterbestehens der für die Wiener Randgemeinden geltenden Begünstigung wurde anläßlich der dem FAG 1985 vorangegangenen Gespräche erörtert, war jedoch von übergeordneten Interessen überlagert.

Die Wiener Randgemeinden durften daher damals noch ihre Finanzplanung dementsprechend ausrichten. Die Feststellung, daß §8 Abs3 vorletzter Satz FAG 1985 idF der Nov 1986 verfassungswidrig war, hätte für das Budget der von der Feststellung negativ betroffenen Gebietskörperschaft(en) schwerwiegende und daher §4 F-VG 1948 verletzende Auswirkungen.

Der Verfassungsgerichtshof hat sich bereits im E v 12.10.90, G66/90, mit der Verfassungsmäßigkeit des §21 FAG 1989 auseinandergesetzt, dies jedoch nur im Rahmen der Anfechtungsgründe (abgestufter Bevölkerungsschlüssel; Berücksichtigung von Personen mit mehreren ordentlichen Wohnsitzen bei Verteilung der Ertragsanteile an den gemeinschaftlichen Bundesabgaben).

Die Rechtskraft dieser Entscheidung steht der Prüfung derselben Gesetzesstelle aufgrund anderer Bedenken nicht entgegen.

Bei den Finanzzuweisungen nach §21 FAG 1985 und FAG 1989 handelt es sich um Schlüsselzuweisungen iSd §12 Abs1 F-VG 1948.

Zwar lehnt sich der Wortlaut des §21 Abs2 Einleitungssatz FAG an die im §12 Abs1 F-VG 1948 für die Umschreibung des Zieles der Bedarfszuweisungen gebrauchte Wendung an. Damit wird aber nur die von einer Durchschnittsbetrachtung ausgehende Auffassung des Gesetzgebers zum Ausdruck gebracht, daß die unter §21 FAG fallenden Gemeinden zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung des Haushaltsgleichgewichtes einer Unterstützung bedürfen; nicht aber verlangt diese Bestimmung den Nachweis eines konkreten Bedarfes. Eine am System des §12 Abs1 F-VG 1948 orientierte Auslegung ergibt eindeutig, daß die im §21 FAG vorgesehenen Finanzzuweisungen Schlüsselzuweisungen sind.

§21 FAG 1989 wird nicht als verfassungswidrig aufgehoben.

§21 FAG 1985 war nicht verfassungswidrig.

Ziel der Gewährung von (pauschalierenden) Schlüsselzuweisungen durch den Bund ist, größtmöglich einen bundesweiten Ausgleich der Unterschiede zwischen den den Gemeinden zur Verfügung stehenden Finanzmitteln zur Erfüllung ihrer Pflichtaufgaben herbeizuführen. Dieses Ziel kann aber allein schon aufgrund der länderweisen Vorverteilung nach der Volkszahl nicht erreicht werden.

Die finanzschwachen Gemeinden erhalten in jenen Ländern, in denen sich nur wenige solche Gemeinden befinden, den Fehlbedarf auf den Bundesdurchschnitt nahezu vollständig befriedigt, während für Gemeinden, die zu jenen Ländern gehören, in denen sich viele finanzschwache Gemeinden befinden, eine lineare Kürzung der zur Aufteilung gelangenden Mittel eintritt.

Einen - den Art7 B-VG und den §4 F-VG 1948 verletzenden - Fehler des Gesetzgebers kann der Verfassungsgerichtshof dann aufgreifen, wenn einzelne Detailvorschriften zueinander in sachlich nicht rechtfertigbarem Widerspruch stehen, oder wenn die Partner der Finanzausgleichsverhandlungen von völlig verfehlten Prämissen ausgingen oder die artikulierte Interessenslage eines Partners geradezu willkürlich ignoriert oder mißachtet wurde.

§21 FAG 1985 und §21 FAG 1989 bilden jedoch einen wesentlichen Teil des für den Zeitraum 1985 bis 1992 geltenden Finanzausgleiches. Die Vorschriften betreffen nicht bloß Details des Finanzausgleichs, sondern haben als Regelungen eines bundesweiten Verteilungsvorganges darüber hinausgehende Dimensionen.

Die Finanzausgleichspartner gingen offenbar davon aus, daß die Regelung des §21 FAG 1985 und FAG 1989 ihr Ziel wenigstens einigermaßen erreichen würde.

Eine schrittweise Anpassung scheidet aus, weil die gebotene Neufassung nicht eine Änderung von Details, sondern eine des Systems erfordern würde.

Diese Systemänderung wird der Gesetzgeber jedoch anläßlich des neuen FAG (1993) vorzunehmen haben.

Entscheidungstexte

  • G 158-162/91
    Entscheidungstext VfGH Erkenntnis 27.06.1991 G 158-162/91

Schlagworte

Finanzverfassung, Finanzausgleich, VfGH / Präjudizialität, VfGH / Anlaßfall, VfGH / Prüfungsgegenstand, VfGH / Bedenken, VfGH / Klagen, Randgemeinden (Verteilungsschlüssel), Wohnsitz Zweit-, Schlüsselzuweisungen, Gemeinde Kostentragung (Finanzausgleich), Verteilungsschlüssel besonderer (Finanzausgleich), Verteilungsschlüssel (Randgemeinden), Bevölkerungsschlüssel abgestufter, Vertrauensschutz

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1991:G158.1991

Dokumentnummer

JFR_10089373_91G00158_01
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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