Index
25 Strafprozeß, StrafvollzugNorm
B-VG Art18 Abs1Leitsatz
Aufhebung der Regelungen über die Behandlung von Gnadengesuchen nach der StPO in der Fassung des StrafrechtsänderungsG 1987 wegen Aufhebbarkeit der gerichtlichen Kompetenz zur (zurückweisenden) Entscheidung von Gnadengesuchen durch gesetzlich unzureichend determinierte Verwaltungsanordnungen, wegen Verstoß gegen den Grundsatz der Gewaltentrennung und wegen Beschneidung der Kompetenz der verfassungsgesetzlich eingerichteten GnadeninstanzRechtssatz
Die Frage der Zulässigkeit der Beschwerden in den Anlaßverfahren hat der Verfassungsgerichtshof auf Grund der untrennbar verbundenen und in den konkreten Beschwerdefällen insgesamt maßgebenden Bestimmungen des §411 Abs2 (zweiter bis letzter Satz) bis Abs6 StPO zu lösen, die ein ineinander verzahntes System der Behandlung von Gnadengesuchen mit - durch ministerielle Anordnungen aufhebbaren - (Teil-)Kompetenzen der Gerichte, und zwar der Gerichte erster Instanz, der Oberlandesgerichte und des Obersten Gerichtshofes (zur Zurückweisung der Gesuche) schaffen.
Diese einfachgesetzlichen Vorschriften, von denen es abhängt, ob Gegenstand der Anfechtung ein Gerichtsbeschluß oder ein Justizverwaltungsakt eines (einzelnen) Richters ist, sind daher bei der Prüfung der Zulässigkeit der Beschwerden gemäß Art144 Abs1 B-VG vom Verfassungsgerichtshof selbst anzuwenden (Art140 Abs1 B-VG).
Die sich dabei ergebenden Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit der maßgebenden Prozeßordnungsvorschriften mußten notwendig vorerst zur Einleitung des Normenkontrollverfahrens führen.
§411 Abs2 (zweiter bis letzter Satz) bis Abs6 StPO idF des StrafrechtsänderungsG 1987, BGBl. 605/1987, wird wegen Verstoß gegen Art18 Abs1 (iVm Art83 Abs2) und Art94 sowie gegen Art65 Abs2 litc (iVm Art67 Abs1 Satz 1) B-VG als verfassungswidrig aufgehoben.
Das Gnadenverfahren bildet - wie sich schon aus der Zuständigkeit des Bundespräsidenten, eines Verwaltungsorganes, gemäß Art65 Abs2 litc B-VG ergibt - eine Verwaltungsangelegenheit; §411 Abs4 iVm Abs2 (zweiter bis letzter Satz) und Abs3 StPO überträgt jedoch die Zurückweisung von Gnadengesuchen unter gewissen Voraussetzungen richterlichen Organen. Zumindest insoweit, als es sich dabei um "Senate" im Sinne des Art87 Abs2 B-VG handelt, folgt daraus, daß §411 StPO diese Organe zur (zurückweisenden) Entscheidung über Gnadengesuche in Ausübung ihres richterlichen Amtes, nicht hingegen als Justizverwaltungsorgan beruft.
Die in Prüfung genommenen Gesetzesstellen ermächtigen den Bundesminister für Justiz ohne hinreichende Determinierung, die gerichtliche Kompetenz zur Zurückweisung von Gnadengesuchen in Einzelfällen durch administrative Anordnungen über die Gesuchsbehandlung in eine Verpflichtung zur gutachtlichen Äußerung umzuwandeln und damit aufzuheben. Sie widersprechen daher jedenfalls dem Art18 Abs1 (iVm Art83 Abs2) B-VG.
Die Regelung verletzt aber auch als Vorschrift, die kompetenzverschiebende verwaltungsbehördliche Einzelanordnungen zuläßt und so eine fließende Zuständigkeit zwischen Gerichtsbarkeit und Verwaltung zur meritorischen Erledigung von Gnadengesuchen festlegt, den insoweit durch Art65 Abs2 litc B-VG nicht eingeschränkten Trennungsgrundsatz des Art94 B-VG.
Davon unabhängig kann der klaren Bestimmung des Art65 Abs2 litc B-VG nicht unterstellt werden, daß sie ein - für die Ausübung des Gnadenrechts völlig überflüssiges - verwaltungsbehördliche und gerichtliche Zuständigkeiten in Gnadensachen verflechtendes besonderes System nach Art des §411 StPO zulasse, das zur abweislichen Erledigung von Gnadengesuchen (auch) andere als die im B-VG genannten Organe beruft und - mag auf die Erledigung eines derartigen Gesuchs ein Rechtsanspruch bestehen oder nicht - die Kompetenz der verfassungsgesetzlich eingerichteten Gnadeninstanz beschneidet. Die in Prüfung gezogenen Vorschriften verletzen darum auch Art65 Abs2 litc B-VG (iVm Art67 Abs1 Satz 1 B-VG).
Entscheidungstexte
Schlagworte
VfGH / Präjudizialität, Strafprozeßrecht, Gnadenrecht, Gericht, Justizverwaltung-Gerichtsbarkeit, Gericht Zuständigkeit - Abgrenzung von Verwaltung, Behördenzuständigkeit, Gewaltentrennung, Zuständigkeit der Gerichte, Determinierungsgebot, BundespräsidentEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1992:G339.1991Dokumentnummer
JFR_10078798_91G00339_01