TE Vfgh Erkenntnis 2004/10/13 B912/04

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Veröffentlicht am 13.10.2004
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Index

40 Verwaltungsverfahren
40/01 Verwaltungsverfahren außer Finanz- und Dienstrechtsverfahren

Norm

B-VG Art83 Abs2
ASVG §343
AVG §38, §73

Leitsatz

Verletzung im Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter durch Entscheidung der Bundesschiedskommission über die Kündigung eines Einzelvertrages eines Arztes mit einem Sozialversicherungsträger aufgrund von Devolutionsanträgen; keine Säumnis der Behörde während rechtskräftiger Aussetzung des Verfahrens; keine Devolution sondern neuerlicher Beginn des Fristenlaufes infolge Aufhebung eines Aussetzungsbescheides

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid, soweit damit den Einsprüchen des Beschwerdeführers gegen die Kündigung des Einzelvertrages durch die Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft und die Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter nicht stattgegeben wird, in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.

Der Bescheid wird insoweit aufgehoben.

Der Bund (Bundesministerin für Gesundheit und Frauen) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zu Handen seines Rechtsvertreters die mit EUR 2160,-- bestimmten Prozesskosten binnen vierzehn Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Der Beschwerdeführer, Arzt für Allgemeinmedizin mit Sitz in Niederösterreich, hat mit der Niederösterreichischen Gebietskrankenkasse, der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft (im Folgenden: SVA) sowie der Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter (im Folgenden: BVA) jeweils einen Einzelvertrag geschlossen.

2.1. Mit Schreiben vom 20. Februar 1998 erklärte die Niederösterreichische Gebietskrankenkasse, das mit dem Beschwerdeführer eingegangene Vertragsverhältnis zum 31. März 1998 zu kündigen.

Der Beschwerdeführer erhob gegen die Kündigung seines Einzelvertrages Einspruch an die Landesschiedskommission für Niederösterreich (eingelangt am 2. März 1998); mit Schriftsätzen vom 21. Februar bzw. 7. November 2002 beantragten sowohl der Beschwerdeführer als auch die Niederösterreichische Gebietskrankenkasse den Übergang der Entscheidungszuständigkeit an die Bundesschiedskommission, wo das Verfahren zur Entscheidung über die Wirksamkeit der Kündigung des Einzelvertrages zu R 1-BSK/02 protokolliert wurde.

2.2. Mit Schreiben vom 26. Mai 1998 bzw. vom 13. November 1998 erklärten weiters die SVA und die BVA, den mit dem Beschwerdeführer jeweils geschlossenen Einzelvertrag zum 30. Juni bzw. 31. Dezember 1998 zu kündigen.

Der Beschwerdeführer erhob auch dagegen jeweils Einspruch (bei der zuständigen Landesschiedskommission eingelangt am 5. Juni 1998 bzw. am 26. November 1998). Mit dem - unbekämpft gebliebenen - Bescheid der Landesschiedskommission für Niederösterreich vom 4. November 2003, dem Beschwerdeführer zugestellt am 6. November 2003, wurden beide Verfahren zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden und "bis zur rechtskräftigen Entscheidung des derzeit beim Landesgericht für Strafsachen in St. Pölten anhängigen Strafverfahrens (20 Hv 122/02 h-1) und der rechtskräftigen Entscheidung der Bundesschiedskommission (R 1-BSK/02) wegen Kündigung des Einzelvertragsverhältnisses zur Niederösterreichischen Gebietskrankenkasse" gemäß §38 AVG ausgesetzt.

Mit Schriftsätzen vom 2. Dezember 2003 bzw. 23. März 2004 beantragten die SVA und die BVA den Übergang der Entscheidungszuständigkeit an die Bundesschiedskommission.

3. Am 24. März 2004 fand eine mündliche Verhandlung der Bundesschiedskommission über die vom Beschwerdeführer bestrittene Wirksamkeit der Kündigung seiner Einzelverträge statt. In dieser Verhandlung verkündete der Vorsitzende der Bundesschiedskommission den folgenden - im Verhandlungsprotokoll wiedergegebenen - Bescheid:

"1. Die Aussetzung der Verfahren betreffend die SVA/Gewerbe und BVA wird aufgehoben.

2. Die Verfahren NÖ-GKK, SVA/Gewerbe und BVA werden zur gemeinsamen Durchführung verbunden."

4. Mit einem weiteren Bescheid dieser Behörde vom 24. März 2004 - dem Beschwerdeführer zu Handen seiner Rechtsvertreter in schriftlicher Ausfertigung am 8. Juni 2004 zugestellt - wurde den Einsprüchen des Beschwerdeführers gegen die Kündigung seiner Einzelverträge nicht stattgegeben.

Gegen diesen - keinem weiteren Rechtszug unterliegenden (§346 Abs7 ASVG) - Bescheid richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, worin die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides, soweit er die Kündigung des Einzelvertrages durch die SVA und die BVA zum Gegenstand hat, beantragt wird.

Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt, ohne eine Gegenschrift zu erstatten. Die SVA und die BVA haben jeweils eine schriftliche Äußerung erstattet, worin sie die Abweisung der Beschwerde beantragen.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Gemäß §343 Abs4 ASVG kann das - zwischen einem Träger der sozialen Krankenversicherung und einem niedergelassenen Arzt begründete - Vertragsverhältnis von beiden Teilen gekündigt werden. Kündigt der Träger der Krankenversicherung, so hat er dies schriftlich zu begründen. Der gekündigte Arzt kann binnen zwei Wochen die Kündigung bei der Landesschiedskommission mit Einspruch anfechten. Die Landesschiedskommission hat binnen sechs Monaten nach Einlangen des Einspruches über diesen zu entscheiden. Der Einspruch hat bis zum Tag der Entscheidung der Landesschiedskommission aufschiebende Wirkung. Die Landesschiedskommission kann die Kündigung für unwirksam erklären, wenn sie für den Arzt eine soziale Härte bedeutet und nicht eine so beharrliche oder eine so schwerwiegende Verletzung des Vertrages oder der ärztlichen Berufspflichten im Zusammenhang mit dem Vertrag vorliegt, dass die Aufrechterhaltung des Vertragsverhältnisses für den Träger der Krankenversicherung nicht zumutbar ist.

Gegen die Entscheidung der Landesschiedskommission kann Berufung an die Bundesschiedskommission erhoben werden (§§345a Abs3, 346 Abs1 ASVG). Die vom gekündigten Arzt eingebrachte Berufung hat ohne Zustimmung des Krankenversicherungsträgers keine aufschiebende Wirkung (§343 Abs4 letzter Satz ASVG).

2. Ein Bescheid verletzt das durch Art83 Abs2 B-VG verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter ua. dann, wenn die Behörde eine ihr nach dem Gesetz nicht zukommende Zuständigkeit in Anspruch nimmt oder in gesetzwidriger Weise ihre Zuständigkeit ablehnt (zB VfSlg. 9696/1983), etwa indem sie zu Unrecht eine Sachentscheidung verweigert (zB VfSlg. 10.374/1985, 11.405/1987, 13.280/1992).

Ein solcher Fehler ist der belangten Behörde im vorliegenden Fall anzulasten:

2.1. Gemäß §347 Abs4 ASVG unterliegt das Verfahren vor der Landes- und der Bundesschiedskommission den Bestimmungen des AVG. Gemäß §73 Abs1 AVG sind die Behörden verpflichtet, sofern in den Verwaltungsvorschriften nicht anderes bestimmt ist, über Anträge von Parteien ohne unnötigen Aufschub, spätestens jedoch binnen sechs Monaten nach deren Einlangen den Bescheid zu erlassen. Wird der Bescheid nicht binnen (hier:) sechs Monaten (§343 Abs4 vierter Satz ASVG) erlassen, so geht - auf schriftlichen Antrag (Devolutionsantrag) der Partei - die Zuständigkeit an die sachlich in Betracht kommende Oberbehörde über (§73 Abs2 AVG).

2.2. Eine Behörde, die das bei ihr anhängige Verfahren mit Bescheid nach §38 AVG rechtskräftig ausgesetzt hat, ist, solange dieser Aussetzungsbescheid dem Rechtsbestand angehört, ihrer Entscheidungspflicht nach §73 Abs1 AVG enthoben, sodass Säumnis nicht eintreten kann (vgl. VwSlg. 8937 A/1975; VwGH 16. September 1997, 97/05/0226 mwN).

Die - noch unter der Geltung des Aussetzungsbescheides der Landesschiedskommission vom 4. November 2003 gestellten - Devolutionsanträge der SVA und der BVA waren somit nicht geeignet, die Zuständigkeit zur Entscheidung über die Wirksamkeit der Kündigung beider in Rede stehenden Einzelverträge an die belangte Behörde übergehen zu lassen. Die belangte Behörde wäre daher verpflichtet gewesen, diese Devolutionsanträge als unzulässig zurückzuweisen; dadurch, dass sie dies unterlassen und vielmehr an Stelle der Landesschiedskommission in der Sache entschieden hat, hat sie eine ihr nach dem Gesetz nicht zukommende Zuständigkeit in Anspruch genommen und so den Beschwerdeführer in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt.

2.3. An diesem Ergebnis ändert auch der Umstand nichts, dass die belangte Behörde den Aussetzungsbescheid der Landesschiedskommission vom 4. November 2003 mit - mündlich verkündetem - Bescheid vom 24. März 2004 aufgehoben hat:

Die Entscheidungsfrist beginnt nämlich mit der Behebung eines Bescheides, durch die der Weg zu einer Sachentscheidung über den zu erledigenden Antrag geöffnet wird, erneut zu laufen, und zwar auch dann, wenn ein - die Entscheidungspflicht der Behörde sistierender - Aussetzungsbescheid nach §38 AVG aufgehoben wird (zB VwGH 30. April 1992, 92/10/0082; 20. Jänner 1994, 93/06/0261; 16. September 1997, 97/05/0226; 23. Oktober 2000, 2000/17/0111).

Durch die Aufhebung des Aussetzungsbescheides wurden somit nicht etwa die von der SVA und von der BVA gestellten Devolutionsanträge im Nachhinein wirksam (vgl. VfSlg. 14.885/1997; ebenso schon VwSlg. 10.263 A/1980), sondern es wurde bloß die für die Landesschiedskommission geltende Frist zur Entscheidung über die vom Beschwerdeführer erhobenen Einsprüche von neuem in Gang gesetzt. Die belangte Behörde war somit auch unter diesem Gesichtspunkt an einer Entscheidung in der Sache gehindert.

2.4. Der angefochtene Bescheid war daher - im bekämpften Umfang - aufzuheben.

3. Die Kostenentscheidung stützt sich auf §88 VfGG. Die zugesprochenen Kosten enthalten Umsatzsteuer in Höhe von EUR 360,--.

4. Dies konnte ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden (§19 Abs4 erster Satz VfGG).

Schlagworte

Behördenzuständigkeit, Sozialversicherung, Ärzte, Verwaltungsverfahren, Entscheidungspflicht, Verfahrensanordnung, Devolution

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2004:B912.2004

Dokumentnummer

JFT_09958987_04B00912_2_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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