RS Vfgh 1993/3/13 G212/92, G213/92, G214/92, G215/92, G242/92, G243/92, G244/92, G245/92, G256/92, G

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Veröffentlicht am 13.03.1993
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41 Innere Angelegenheiten
41/02 Staatsbürgerschaft, Paß- und Melderecht

Norm

EMRK Art8
PaßG 1969 §25 Abs3

Leitsatz

Kein Widerspruch von Bestimmungen des PaßG 1969 über die Versagung der Erteilung eines Sichtvermerks zum Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens; weite Fassung der Eingriffstatbestände des Art8 Abs2 EMRK; verfassungskonforme Auslegung möglich

Rechtssatz

Die litb, litd und lite des §25 Abs3 PaßG 1969, BGBl. 422, waren nicht verfassungswidrig.

Die Versagung eines Sichtvermerkes ist geeignet, in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens einzugreifen (vgl. VfSlg. 11044/1986).

Zwar besteht bei einer Versagung des Sichtvermerkes nicht dieselbe spezifische Eingriffsnähe in das erwähnte Grundrecht wie etwa bei einem Aufenthaltsverbot (vgl. VfSlg. 10737/1985); dennoch wäre die Annahme unzutreffend, daß Eingriffe in das durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht nur in vernachlässigbaren Einzelfällen eintreten könnten.

Die in Art8 Abs2 EMRK enthaltenen Eingriffstatbestände sind so weit gefaßt (s. - neben "öffentliche Ruhe und Ordnung" - beispielsweise "Verhinderung von strafbaren Handlungen", "Schutz der Rechte und Freiheiten anderer"), daß die in §25 Abs3 litd PaßG 1969 normierte Wendung "öffentliche Ruhe, Ordnung oder Sicherheit" im Sinne dieser Eingriffstatbestände - und somit verfassungskonform - interpretierbar ist. Unter §25 Abs3 litd PaßG 1969 sind nur solche Verhaltensweisen des Sichtvermerkswerbers zu subsumieren, die eines der von Art8 Abs2 EMRK erfaßten Schutzgüter derart schwerwiegend tangieren, daß sie - bei einer am Sinn der Konvention orientierten Auslegung - die Verweigerung der Sichtvermerkserteilung in jedem Fall oder doch bei entsprechender Interessenabwägung rechtfertigen können.

Als Umstände, die geeignet sind, die "öffentliche Ruhe, Ordnung oder Sicherheit zu gefährden", können nur solche angesehen werden, die eine derart gravierende Beeinträchtigung des geordneten menschlichen Zusammenlebens darstellen, daß die Notwendigkeit eines Zurücktretens etwaiger privater und familiärer Interessen des Sichtvermerkswerbers an der Erteilung des Sichtvermerkes zumindest denkbar ist.

Die weite Fassung der Eingriffstatbestände des Art8 Abs2 EMRK gestattet, auch die lite des §25 Abs3 PaßG 1969 im Sinne dieser Konventionsnorm zu verstehen. Gleich wie bei der litd hatte die Behörde vor Anwendung der lite des §25 Abs3 PaßG 1969 im jeweiligen Einzelfall zu prüfen, ob die Weigerung, einen Sichtvermerk zu erteilen, aus den im Art8 Abs2 EMRK umschriebenen öffentlichen Interessen (insbesondere aus jenen des "wirtschaftlichen Wohles des Landes") notwendig ist.

Von §25 Abs3 litb PaßG 1969 wurden nur jene Konstellationen erfaßt, in denen nach den Angaben des Sichtvermerkswerbers bloß eine Einreise nach Österreich zum kurzfristigen Aufenthalt geplant war. Erscheint in diesen Fällen aber die Wiederausreise nicht gesichert, so ist - bei einer zulässigen Durchschnittsbetrachtung - nicht anzunehmen, daß irgendwelche private oder familiäre Interessen (etwa die Interessen an kurzfristigen Besuchen von in Österreich wohnenden Familienangehörigen oder Bekannten) im Hinblick auf Art8 EMRK gebieten würden, dem Fremden dennoch die Einreise nach Österreich zu gestatten. Daraus folgt, daß es in den von der litb erfaßten Fällen auch im Lichte des Art8 Abs2 EMRK - schon um einen Rechtsmißbrauch hintanzuhalten - durchwegs gerechtfertigt war, die persönlichen Verhältnisse des Fremden zu vernachlässigen.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Paßwesen, Auslegung verfassungskonforme, Sichtvermerk, Privat- und Familienleben

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1993:G212.1992

Dokumentnummer

JFR_10069687_92G00212_01
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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