RS Vfgh 1993/10/13 G248/91, V190/91

JUSLINE Rechtssatz

Veröffentlicht am 13.10.1993
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Index

22 Zivilprozeß, außerstreitiges Verfahren
22/02 Zivilprozeßordnung

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art18 Abs2
B-VG Art139 Abs1 / Präjudizialität
B-VG Art139 Abs1 / Prüfungsgegenstand
ZPO §219 Abs2
Geo (Geschäftsordnung für die Gerichte I) und II. Instanz, §11 Abs1 Z32
Geo §170 Abs2
GOG 1896 §24 Abs1, §25 und §27 idF BGBl 230/1988

Leitsatz

Gewährung von Akteneinsicht bzw Abschriftnahme im zivilgerichtlichen Verfahren auch an dritte, am Verfahren nicht beteiligte Personen nicht dem Bereich der Justizverwaltung sondern der gerichtlichen Rechtsprechung zuzurechnen; Aufhebung der Bestimmung der ZPO betreffend die Übertragung der Entscheidung über die von einem Dritten verlangte Akteneinsicht an den Gerichtsvorsteher wegen Widerspruchs zum Gleichheitsgebot; Feststellung der Gesetzwidrigkeit der diesbezüglichen Verordnungsbestimmungen der Geo angesichts des Wegfalls ihrer gesetzlichen Grundlage

Rechtssatz

Den Einwand der mangelnden Präjudizialität der angefochtenen Verordnungsstellen in §11 Abs1 Z32 und §170 Abs2 Geo mit dem Argument, daß diese Bestimmungen "im Ergebnis" bloß die registermäßige Behandlung von Entscheidungen des Gerichtsvorstehers beträfen, hält der Verfassungsgerichtshof vom Ansatz her für verfehlt, weil er weder mit dem Wortlaut der Verordnungsbestimmungen noch mit ihrer systematischen Stellung innerhalb der Geo in eine sinnvolle Beziehung gebracht werden kann.

Ein Antrag iS des Art139 B-VG wäre nur dann wegen mangelnder Präjudizialität zurückzuweisen, wenn es offenkundig unrichtig (also denkunmöglich) ist, daß die - angefochtene - generelle Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden Gerichts im Anlaßfall bildet.

Dem §170 Abs2 Geo wurde durch §24 Abs1, §25 und §27 des GOG 1896 idF BGBl. 230/1988 nicht materiell derogiert. Die bezogene Vorschrift stellt sich nämlich im Verhältnis zu den angeführten allgemeinen Vorschriften des GOG 1896, welche die Ausübung der Gerichtsbarkeit durch den Gerichtsvorsteher und andere Richter sowie dessen Vertretung in Justizverwaltungsangelegenheiten zum Gegenstand haben, als die speziellere (nämlich nur die Entscheidung über die Akteneinsicht betreffende) Regelung dar.

Die im §219 Abs2 zweiter Satz ZPO enthaltene Wortfolge "vom Vorsteher des Gerichtes" wird als verfassungswidrig aufgehoben.

Die in §219 Abs2 ZPO geregelte Angelegenheit fällt nicht in den Bereich der Justizverwaltung, sondern bildet eine solche der gerichtlichen Rechtsprechung.

In Ansehung anhängiger Verfahren gibt es keinen einsichtigen Grund dafür, die Entscheidung über das Begehren um Akteneinsicht einem anderen Organ als dem in der anhängigen Zivilrechtssache zuständigen Richter zu übertragen. Der Umstand, daß Anlaß zur Entscheidung über die von einem Dritten verlangte Akteneinsicht die fehlende Zustimmung zumindest einer Verfahrenspartei bildet, läßt auf die Möglichkeit eines zu klärenden und abzuwägenden Interessengegensatzes zwischen Verfahrensparteien und dem Akteneinsicht verlangenden Dritten schließen; bei einer solchen anzunehmenden Lage erscheint es von vornherein als sachfremd, zu dieser Klärung und Abwägung ein mit dem Verfahren (jedenfalls noch) nicht vertrautes Organ zu berufen. Eine solche Regelung ist sachlich nicht begründbar und widerspricht somit dem dem Gleichheitsgebot immanenten Sachlichkeitsgebot.

Die im §11 Abs1 Z32 der Geschäftsordnung für die Gerichte I. und II. Instanz (Geo), BGBl. 264/1951, enthaltene Wortfolge "und Geschäfte, die sich für den Gerichtsvorsteher aus dem Ersuchen um Akteneinsicht ergeben" sowie der zweite Satz im §170 Abs2 Geo waren gesetzwidrig.

Die im Verordnungsprüfungsverfahren angefochtenen Vorschriften der Geo sind nunmehr (nach Aufhebung einer Wortfolge in §219 Abs2 ZPO) auf dem Boden der bereinigten Rechtslage zu beurteilen, die - im Hinblick auf den Wegfall der Entscheidungszuständigkeit des Gerichtsvorstehers über Begehren Dritter um Akteneinsicht - keine Basis mehr für die Begründung einer solchen Kompetenz des Gerichtsvorstehers im Bereich des zivilgerichtlichen Verfahrens bilden.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Zivilprozeß, Akteneinsicht, VfGH / Präjudizialität, VfGH / Prüfungsgegenstand, Derogation materielle

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1993:G248.1991

Dokumentnummer

JFR_10068987_91G00248_01
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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