RS Vfgh 1994/3/2 B2045/92

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Veröffentlicht am 02.03.1994
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Index

82 Gesundheitsrecht
82/03 Ärzte, sonstiges Sanitätspersonal

Norm

EMRK Art10
ÄrzteG §95 Abs1

Leitsatz

Verletzung der Meinungsäußerungsfreiheit durch Verhängung einer Disziplinarstrafe über einen Arzt wegen der im Rahmen von Interviews in Medien geäußerten Kritik am Honorarsystem der Ärzte infolge verfassungswidriger Auslegung der Standesregeln des ÄrzteG; keine Beeinträchtigung des Standesansehens durch - wenn auch scharfe - Sachkritik zur Bekämpfung systembedingter Mißstände

Rechtssatz

Es kann iS des Art10 Abs2 EMRK "in einer demokratischen Gesellschaft als notwendig" angesehen werden, abwertende, den Grundsatz der Kollegialität verletzende und die Stellung von Berufskollegen in der Öffentlichkeit benachteiligende Meinungsäußerungen im Wege einer besonderen Standesgerichtsbarkeit zu ahnden, sofern diese Meinungsäußerungen in der Art ihrer Formulierung oder in ihrem Inhalt eine unsachliche Kritik in sich bergen. Standesrechtlich vorgesehene Disziplinarmaßnahmen sind daher an sich zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer in einer demokratischen Gesellschaft verfassungsrechtlich zulässig.

Die Möglichkeit zur sachlichen, in der gebotenen Form geäußerten Kritik bildet ein unverzichtbares, aus der Meinungsäußerungsfreiheit nach Art10 EMRK erfließendes, jedermann zustehendes Recht in einem demokratischen Gemeinwesen. Eine derartige, sachliche Kritik ist an sich jedermann verfassungsgesetzlich gewährleistet. Umso mehr muß sie aber den Berufsgenossen eröffnet sein, weil vielfach nur diese über das für eine tiefgreifende Kritik erforderliche Maß an Fachwissen verfügen. Weder der Grundsatz der Kollegialität, geschweige denn die Achtung "der Ehre und Würde des Standes" kann daher einen Arzt (ebenso wie Angehörige anderer freier Berufe) vor einer sachlichen, in der gebotenen Form geäußerten Kritik durch einen anderen Standesangehörigen schützen. Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung gilt nämlich in einer demokratischen Gesellschaft nicht nur für "Nachrichten" oder "Ideen", die ein positives Echo haben oder die als unschädlich oder gleichgültig angesehen werden, sondern auch für solche, die provozieren, schockieren oder stören.

Ein einigermaßen aufmerksamer Leser der inkriminierten Äußerungen kann den vom Beschwerdeführer gebrauchten Formulierungen klar entnehmen, daß damit keineswegs alle Ärzte angesprochen werden. Geht es bei den inkriminierten Äußerungen des Beschwerdeführers nicht um eine unsachliche Entstellung, sondern lediglich um eine - wenn auch scharfe - Kritik, dann halten sich die vom Beschwerdeführer abgegebenen Äußerungen in einem Rahmen, der - ein verfassungskonformes Verständnis des §95 Abs1 ÄrzteG vorausgesetzt - nicht zum Anlaß disziplinärer Maßnahmen genommen werden darf. In einer freien Gesellschaft kann das Engagement für Systemverbesserungen, selbst wenn die Sachkritik wegen der Wortwahl nicht willkommen, ja unerwünscht ist, nicht als Beeinträchtigung des Standesansehens gewertet werden.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Meinungsäußerungsfreiheit, Disziplinarrecht Ärzte, Ärzte, Auslegung verfassungskonforme

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1994:B2045.1992

Dokumentnummer

JFR_10059698_92B02045_01
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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