RS Vfgh 1994/3/7 B115/93

JUSLINE Rechtssatz

Veröffentlicht am 07.03.1994
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Index

10 Verfassungsrecht
10/10 Grundrechte, Datenschutz, Auskunftspflicht

Norm

B-VG Art18 Abs1
B-VG Art22
B-VG Art79
B-VG Art144 Abs1 / Prüfungsmaßstab
StGG Art8
EMRK Art3
EMRK Art5
EMRK Art8
EMRK Art13
PersFrSchG 1988 Art1 Abs4
PersFrSchG 1988 Art1 ff
PersFrSchG 1988 Art2 Abs1
WehrG 1990 §2
FremdenpolizeiG §10
FremdenpolizeiG §14e
GrenzkontrollG §13
BVG über den Schutz der persönlichen Freiheit siehe PersFrSchG 1988

Leitsatz

Keine Verletzung im Recht auf persönliche Freiheit durch die Festnahme, Anhaltung sowie die Persons- und Gepäcksuntersuchung von Fremden aufgrund des Verdachts des illegalen Grenzübertritts durch Organe des Bundesheeres; verfassungskonforme Assistenzleistung des Bundesheeres für Organe der Bundesgendarmerie und Zurechenbarkeit dieser Akte an die zuständige Bezirkshauptmannschaft; gesetzliche Grundlage und wirksamer nationaler Rechtsschutz gegeben; keine Verletzung des Privat- und Familienlebens, des Grundsatzes der Wahl des gelindesten Mittels und keine menschenunwürdige Behandlung durch die bei den Festgenommenen durchgeführte Persons- und Gepäcksuntersuchung

Rechtssatz

Die von der Rechtsprechung zu Art8 StGG entwickelten Überlegungen sind nun auf das durch Art1 ff PersFrSchG 1988 gewährleistete Recht auf Freiheit und Sicherheit (persönliche Freiheit) unter Berücksichtigung der durch dieses BVG erfolgten Änderungen zu übertragen.

Das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf persönliche Freiheit unterscheidet sich strukturell nicht von den meisten Grundrechten, hinsichtlich deren nicht jeder gesetzwidrige Eingriff einer Verletzung des Grundrechtes gleichkommt.

Es trifft nicht zu, daß jede Gesetzwidrigkeit eines Bescheides einem vom Verfassungsgerichtshof aufzugreifenden unzulässigen Eingriff in das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf persönliche Freiheit gleichkommt.

Schon die bisherige Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes ging nicht von einem solchen Verständnis des BVG über den Schutz der persönlichen Freiheit und des Art5 EMRK aus, sondern bejahte eine Zuständigkeit auch des Verwaltungsgerichtshofes zur Entscheidung über Beschwerden gegen Bescheide, die den Entzug der persönlichen Freiheit zum Inhalt haben.

Der Bescheid einer Verwaltungsbehörde - wie hier des unabhängigen Verwaltungssenates Burgenland -, mit dem darüber entschieden wird, ob eine Festnahme oder Anhaltung einer Person rechtmäßig war oder ist, verletzt das durch Art1 ff PersFrSchG 1988 und durch Art5 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Freiheit und Sicherheit (persönliche Freiheit), wenn er gegen die verfassungsgesetzlich festgelegten Erfordernisse der Festnahme bzw Anhaltung verstößt, wenn er in Anwendung eines verfassungswidrigen, insbesondere den genannten Verfassungsvorschriften widersprechenden Gesetzes, wenn er gesetzlos oder in denkunmöglicher Anwendung einer verfassungsrechtlich unbedenklichen Rechtsgrundlage ergangen ist, ein Fall, der nur dann vorläge, wenn die Behörde einen so schweren Fehler begangen hätte, daß dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre.

Keine Verletzung im Recht auf persönliche Freiheit durch Festnahme und Anhaltung Fremder aufgrund des Verdachts des illegalen Grenzübertritts durch Organe des Bundesheeres; Assistenzleistung für Organe der Bundesgendarmerie; Zurechenbarkeit der Akte an die zuständige Bezirkshauptmannschaft; gesetzliche Grundlage gegeben; kein Verstoß gegen das Legalitätsprinzip mangels selbständigen Einschreitens des Bundesheeres; kein Verstoß gegen Art13 EMRK aufgrund der Beschwerdemöglichkeit an den UVS und an Verfassungsgerichtshof und Verwaltungsgerichtshof.

Der Einsatz des österreichischen Bundesheeres stützt sich nicht auf Art22, sondern auf Art79 B-VG.

Aus Art79 B-VG folgt, daß die Organe des Bundesheeres im Falle einer Assistenzleistung grundsätzlich in jene Befugnisse "eintreten", die den Behörden zukommen, die die Assistenzleistung des Bundesheeres angefordert haben, und daß die von den eingeschrittenen Soldaten wahrgenommenen Aufgaben funktionell der Bezirkshauptmannschaft Mattersburg als Sicherheitsbehörde zuzurechnen sind.

Der hier maßgebliche Einsatz des Bundesheeres stützt sich auf den Beschluß der Bundesregierung vom 17.12.91.

Aus dem Wortlaut des §2 Abs2 WehrG 1990 ergibt sich völlig klar, daß der Gesetzgeber ua. alle Behörden und Organe des Bundes innerhalb ihres Wirkungsbereiches zur unmittelbaren Inanspruchnahme des Bundesheeres ermächtigt, sofern sie den in §2 Abs1 litb WehrG 1990 genannten Zwecken - zu denen die Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit im Inneren überhaupt zählt - ohne Mitwirkung des Bundesheeres nicht zu entsprechen vermögen.

Unter "Mitwirkung" im Sinne des Art79 Abs2 und Abs4 B-VG und damit in Übereinstimmung gemäß §2 Abs2 des WehrG 1990 wird keine selbständige Funktion des Bundesheeres geschaffen, sondern erfolgt eine Zuordnung des Bundesheeres zu dem für die eigentliche Besorgung der Aufgaben zuständigen Organ derart, daß die Organe des Bundesheeres bei einem Assistenzeinsatz grundsätzlich die den zivilen Einrichtungen übertragenen Befugnisse für diese wahrnehmen.

Keine Verletzung des Privat- und Familienlebens und kein Verstoß gegen den Grundsatz der Wahl des gelindesten Mittels in Art1 Abs4 PersFrSchG 1988 durch die Persons- und Gepäcksuntersuchung von aufgrund des Verdachts des illegalen Grenzübertritts festgenommenen Fremden, keine Verletzung des Art3 EMRK.

Bei der Personen- und Gepäcksdurchsuchung einer verhafteten bzw festgenommenen Person handelt es sich um eine dem Begriff der Verhaftung bzw Festnahme innewohnende Folgemaßnahme im Interesse der Sicherheit des Betroffenen wie auch jener Personen, die mit ihr in Berührung kommen.

Der durch die Personen- und Gepäcksdurchsuchung der Beschwerdeführer erfolgte Eingriff in das durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Schutz des Privat- und Familienlebens findet somit in den gesetzlichen Ermächtigungen zur Festnahme und Anhaltung seine gesetzliche Deckung im Sinne des zweiten Absatzes dieser Bestimmung.

Auch die Notwendigkeit der gesetzten Maßnahmen im Sinne des Art1 Abs4 des BVG über den Schutz der persönlichen Freiheit kann aus dieser Sicht mit gutem Grunde nicht verneint werden.

Die gesamte Gruppe von Fremden, in der sich die männlichen Beschwerdeführer befunden hatten, ist nur zum Teil aufgefordert worden, einen Teil ihrer Oberbekleidung abzulegen. Im übrigen wurde die ganze Gruppe in der Folge von den Gendarmeriebeamten gelabt, konnten sich alle Mitglieder dieser Gruppe ausruhen und wurde ein Teil von ihnen, weil besonders armselig bekleidet, mit aus Spenden stammender Bekleidung ausgestattet.

Entscheidungstexte

Schlagworte

VfGH / Zuständigkeit, Verwaltungsgerichtshof, Zuständigkeit Verwaltungsgerichtshof, Festnehmung, Bundesheer, Unabhängiger Verwaltungssenat, VfGH / Prüfungsmaßstab, Bundesgendarmerie, Militärrecht, Verwaltungsakt, Zurechenbarkeit Verwaltungsakt, Grenzkontrolle, Fremdenpolizei, Zurückschiebung, Amtshilfe, Legalitätsprinzip, Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt, Mißhandlung, Privat- und Familienleben, Personsdurchsuchung, Polizeirecht - Wahl des gelindesten Mittels

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1994:B115.1993

Dokumentnummer

JFR_10059693_93B00115_01
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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