TE Vfgh Beschluss 2004/11/29 G47/04

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Veröffentlicht am 29.11.2004
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Index

25 Strafprozeß, Strafvollzug
25/01 Strafprozeß

Norm

B-VG Art140 Abs1 / Individualantrag
StPO §90h

Leitsatz

Zurückweisung des Individualantrags auf Aufhebung einer Bestimmung der StPO betreffend die Wiederaufnahme eines durch Diversion beendeten Verfahrens infolge Zumutbarkeit des gerichtlichen Rechtsweges

Spruch

Der Antrag wird zurückgewiesen.

Begründung

Begründung:

1.1.1. Mit seinem auf Art140 Abs1 letzter Satz B-VG gestützten Antrag begehrt der Antragsteller, die Wortfolge "nur unter den Voraussetzungen der ordentlichen Wiederaufnahme" in §90h Abs1 erster Satz Strafprozessordnung 1975, BGBl. 1975/631 idF BGBl. I 1999/55 (im Folgenden: StPO) als verfassungswidrig aufzuheben. Eventualiter wird die Aufhebung des gesamten §90h Abs1 StPO oder der Bestimmungen der §§90a bis 90m StPO, also sämtlicher Vorschriften des IXa. Hauptstücks der StPO über die Diversion, beantragt.

1.1.2. Nach dem Vorbringen des Antragstellers sei gegen ihn beim Bezirksanwalt des Bezirksgerichtes Ried im Innkreis wegen des Verdachtes, als Lenker eines PKWs aus Unachtsamkeit einen Verkehrsunfall mit Personenschaden herbeigeführt zu haben, ein staatsanwaltliches Verfahren wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach §88 Abs1 StGB anhängig gewesen. Er habe das Anbot des Bezirksanwaltes, im Fall der Zahlung eines bestimmten Geldbetrages gemäß §90c Abs4 StPO auf weitere Verfolgung zu verzichten, angenommen, worauf das Verfahren diversionell erledigt worden sei.

In der Folge habe der Lenker des unfallsbeteiligten Fahrzeuges gegen den Antragsteller am Zivilrechtsweg Schmerzengeldansprüche geltend gemacht. Nach dem Ergebnis des in diesem (Zivil)Verfahren eingeholten kraftfahrtechnischen Sachverständigengutachtens sei die ihm aus dem in Rede stehenden Verkehrsgeschehen angelastete Verletzung des Unfallsgegners (Distorsion der Halswirbelsäule) zufolge der errechneten kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung "technischerseits nicht nachvollziehbar". Diese Expertise stelle in Bezug auf das staatsanwaltliche Verfahren den Wiederaufnahmegrund eines neuen Beweismittels iSd. §353 Z2 StPO dar. Der Bezirksanwalt habe dem Begehren des Antragstellers, die Wiederaufnahme des Verfahrens zu veranlassen, nicht entsprochen.

Einen gerichtlichen Antrag auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens hat der Antragsteller nicht eingebracht.

1.2. Die Bestimmungen über die Diversion sind im IXa. Hauptstück der StPO geregelt.

Unter der Überschrift "I. Allgemeines" lautet §90a Abs1:

"§90a. (1) Der Staatsanwalt hat nach diesem Hauptstück vorzugehen und von der Verfolgung einer strafbaren Handlung zurückzutreten, wenn auf Grund hinreichend geklärten Sachverhalts feststeht, daß ein Zurücklegen der Anzeige nach §90 nicht in Betracht kommt, eine Bestrafung jedoch im Hinblick auf

1.

die Zahlung eines Geldbetrages (§90c) ...

2.

bis 4. ...

nicht geboten erscheint, um den Verdächtigen von strafbaren Handlungen abzuhalten oder der Begehung strafbarer Handlungen durch andere entgegenzuwirken."

§90c StPO - überschrieben mit "Rücktritt von der Verfolgung nach Zahlung eines Geldbetrages" - hat folgenden Wortlaut:

"§90c. (1) Unter den Voraussetzungen des §90a kann der Staatsanwalt von der Verfolgung einer strafbaren Handlung zurücktreten, wenn der Verdächtige einen Geldbetrag zugunsten des Bundes entrichtet.

(2) Der Geldbetrag darf den Betrag nicht übersteigen, der einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen zuzüglich der im Fall einer Verurteilung zu ersetzenden Kosten des Strafverfahrens (§§389 Abs2 und 3, 391 Abs1) entspricht. ...

(3) ...

(4) Der Staatsanwalt hat dem Verdächtigen mitzuteilen, daß die Durchführung eines Strafverfahrens gegen ihn wegen einer bestimmten strafbaren Handlung beabsichtigt sei, aber unterbleiben werde, wenn er einen festgesetzten Geldbetrag und gegebenenfalls Schadensgutmachung in bestimmter Höhe leiste. ...

(5) Nach Leistung des Geldbetrages und allfälliger Schadensgutmachung hat der Staatsanwalt von der Verfolgung zurückzutreten, sofern das Verfahren nicht gemäß §90h nachträglich einzuleiten oder fortzusetzen ist."

Der mit "Nachträgliche Einleitung oder Fortsetzung des Strafverfahrens" übertitelte §90h StPO lautet in seinem Abs1:

"§90h. (1) Nach einem nicht bloß vorläufigen Rücktritt von der Verfolgung des Verdächtigen nach diesem Hauptstück (§§90c Abs5, 90d Abs5, 90f Abs4 und 90g Abs1) ist eine Einleitung oder Fortsetzung des Strafverfahrens nur unter den Voraussetzungen der ordentlichen Wiederaufnahme zulässig. Vor einem solchen Rücktritt ist das Strafverfahren jedenfalls dann einzuleiten oder fortzusetzen, wenn der Verdächtige dies verlangt."

Das XX. Hauptstück der StPO regelt die Wiederaufnahme des Strafverfahrens. Die darin enthaltene Vorschrift des §353 lautet:

"§353. Der rechtskräftig Verurteilte kann die Wiederaufnahme des Strafverfahrens selbst nach vollzogener Strafe verlangen:

1. ...

2. wenn er neue Tatsachen oder Beweismittel beibringt, die allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen geeignet erscheinen, seine Freisprechung oder die Verurteilung wegen einer unter ein milderes Strafgesetz fallenden Handlung zu begründen; ...

3. ..."

Gemäß §447 StPO richtet sich das Verfahren wegen in die Kompetenz der Bezirksgerichte fallender strafbarer Handlungen, sofern keine Sonderregelungen bestehen, nach den für das Verfahren vor den Gerichtshöfen erster Instanz geltenden Bestimmungen, in Ansehung der Diversion daher nach den Vorschriften des IXa. Hauptstücks.

Hinsichtlich der Wiederaufnahme eines bezirksgerichtlichen Verfahrens verweist §480 erster Satz StPO auf die im XX. Hauptstück aufgestellten Grundsätze. Über die Zulassung der Wiederaufnahme entscheidet gemäß §480 zweiter Satz StPO (idF BGBl. I 2001/113) das Bezirksgericht. Gegen (nicht der Berufung unterliegende) Entscheidungen des Bezirksgerichtes steht den Beteiligten nach §481 StPO das binnen 14 Tagen zu erhebende Rechtsmittel der Beschwerde an den Gerichtshof erster Instanz zu.

2. Zur Antragslegitimation führt der Antragsteller ua. aus, dass ihm durch die Bestimmung des §90h Abs1 erster Satz StPO sowie durch das Fehlen anderer Regelungen über Rechtsmittel nach erfolgter Diversion der Rechtsschutz verwehrt und dadurch direkt in seine Rechtssphäre eingegriffen werde. Dieser Eingriff sei aktuell, weil der Bezirksanwalt beim Bezirksgericht Ried im Innkreis "das Rechtsmittel der ordentlichen Wiederaufnahme verweigert und dies auf den §90h Abs1 erster Satz StPO ... stützt". Mangels einer anfechtbaren Sachentscheidung durch die staatsanwaltschaftlichen Behörden stünde kein anderer zumutbarer Rechtsweg offen.

3. Der Antrag ist nicht zulässig.

3.1. Der Verfassungsgerichtshof hat seit dem Beschluss VfSlg. 8009/1977 in ständiger Rechtsprechung den Standpunkt vertreten, die Antragslegitimation nach Art140 Abs1 B-VG setze voraus, dass durch die bekämpfte Bestimmung die (rechtlich geschützten) Interessen des Antragstellers nicht bloß potentiell, sondern aktuell beeinträchtigt werden müssen und dass der durch Art140 Abs1 B-VG dem Einzelnen eingeräumte Rechtsbehelf dazu bestimmt ist, Rechtsschutz gegen rechtswidrige generelle Normen nur insoweit zu gewähren, als ein anderer zumutbarer Weg nicht zur Verfügung steht (zB VfSlg. 11.684/1988, 13.871/1994).

3.2. Dem Antragsteller ist - entgegen seiner (lediglich das staatsanwaltliche Verfahren berücksichtigenden) Auffassung - zur Wahrung seiner Rechte ein zumutbarer Weg über ein gerichtliches (Rechtsmittel)Verfahren eröffnet. Er hat nämlich die Möglichkeit, mit Bezugnahme auf das in Rede stehende, von ihm als neues Beweismittel gemäß §353 Z2 StPO beurteilte Sachverständigengutachten durch einen (zeitlich unbegrenzten) Antrag auf Wiederaufnahme des vom Bezirksanwalt beendeten Strafverfahrens beim Bezirksgericht Ried im Innkreis (§480 zweiter Satz StPO) eine (sei es auch bloß zurückweisende) Entscheidung über dieses Begehren herbeizuführen und seine Bedenken gegen die Norm in einem - zulässigen (§481 StPO) - Rechtsmittel gegen diesen bezirksgerichtlichen Beschluss dem zuständigen Landesgericht Ried im Innkreis als Beschwerdegericht mit der Anregung auf Stellung eines Gesetzesprüfungsantrages beim Verfassungsgerichtshof zu unterbreiten. Dabei kommt es auf die materiellen Erfolgschancen der Beschwerde nicht an (zB VfSlg. 15.260/1998, 16.134/2001). Außergewöhnliche Umstände, welche die Einbringung eines Individualantrages zufolge Unzumutbarkeit eines anderen Weges ausnahmsweise zulässig machen können (wie die Übertretung einer Verbotsnorm zur Provozierung eines Strafverfahrens, das erst den Rechtsweg eröffnet - VfSlg. 12.379/1990 - oder mit der Rechtsmittelerhebung verbundene besondere Härten - vgl. etwa VfSlg. 16.772/2002), liegen nicht vor.

Gemäß Art89 Abs2 zweiter Satz B-VG wäre das in zweiter Instanz zuständige Gericht - sofern es die Bedenken des Antragstellers teilt - zur Anfechtung der für verfassungswidrig erachteten Regelung verpflichtet.

3.3. Der Antrag war daher schon aus den dargelegten Erwägungen gemäß §19 Abs3 Z2 lite VfGG wegen Fehlens der Legitimation ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung zurückzuweisen, ohne dass andere Prozessvoraussetzungen - wie die aktuelle nachteilige Wirkung der angefochtenen Regelung für den Antragsteller oder die Eignung der Umschreibung des Anfechtungsbegehrens zur Beseitigung der behaupteten Verfassungswidrigkeit - zu prüfen waren.

Schlagworte

Strafprozeßrecht, Diversion, Wiederaufnahme, VfGH / Individualantrag

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2004:G47.2004

Dokumentnummer

JFT_09958871_04G00047_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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