RS Vfgh 1994/3/11 B966/93, B1089/93

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Veröffentlicht am 11.03.1994
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Index

41 Innere Angelegenheiten
41/02 Staatsbürgerschaft, Paß- und Melderecht

Norm

B-VG Art11 Abs2
B-VG Art144 Abs1 / Bescheid
B-VG Art144 Abs1 / Legitimation
EMRK Art8
FremdenG §10 Abs1 Z3
FremdenG §65 Abs2
FremdenG §69
EGVG ArtII Abs2

Leitsatz

Bescheidqualität von Schreiben der Österreichischen Botschaft in Ankara betreffend die Nichterteilung von Sichtvermerken; keine Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der besonderen Vorschriften über das Verfahren vor österreichischen Vertretungsbehörden im Ausland nach dem FremdenG; kein Verstoß gegen die Bedarfsgesetzgebungskompetenz des Bundes angesichts der auch vor Inkrafttreten der B-VG-Novelle 1974 mangelnden Anwendbarkeit des AVG durch diese Behörden in Sichtvermerksangelegenheiten; keine Verletzung des Beschwerdeführers (zu B966/93) im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Versagung der Erteilung eines Sichtvermerks; Verletzung der Zweitbeschwerdeführerin (zu B1089/93) im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Versagung der Erteilung eines Sichtvermerks infolge gravierender Verfahrensmängel

Rechtssatz

Dem §65 Abs2 FremdenG zufolge obliegt im Ausland unter anderem die Erteilung von Sichtvermerken den österreichischen Vertretungsbehörden. Eine von diesen zu treffende Entscheidung, die dem Standpunkt des Antragstellers nicht vollinhaltlich Rechnung trägt, ist nach §69 Abs1 und Abs2 FremdenG über Antrag der Partei (auch) schriftlich auszufertigen. Jedenfalls die schriftliche Ausfertigung einer negativen Entscheidung ist nach Wortlaut und Sinn des Gesetzes eine das Verfahren endgültig, mit normativer Wirkung abschließende Erledigung einer Verwaltungsbehörde, also ein Bescheid iS des Art144 Abs1 B-VG; dies auch dann, wenn die schriftliche Erledigung ohne vorangegangenen, (ausdrücklich) darauf gerichteten Antrag erging.

Das AVG ist von den österreichischen Vertretungsbehörden im Ausland in Sichtvermerksangelegenheiten nicht anzuwenden, also die Bezeichnung der Erledigung als "Bescheid" (§58 Abs1 AVG) nicht vorgeschrieben.

Die von S E erhobene Beschwerde ist unzulässig. Er ist nämlich weder formell Adressat des zu B1089/93 angefochtenen Bescheides, noch wird durch die Abweisung des Antrages, seiner Gattin einen Sichtvermerk zu erteilen, seine Rechtssphäre berührt.

Verfassungsrechtliche Bedenken dagegen, daß ein noch unter dem Regime des PaßG 1969 gestellter Sichtvermerksantrag nach dem zum Zeitpunkt der Entscheidung über diesen Antrag geltenden Gesetz (dem FremdenG) entschieden wird, bestehen nicht.

Eine historische Interpretation ergibt, daß Art11 Abs2 B-VG idF der B-VG-Novelle 1974, BGBl 444, jene Verfahren überhaupt nicht erfaßt, die von am 01.01.75 bereits bestehenden Behörden auf damals bereits gesetzlich geregelten Verwaltungsgebieten zu führen waren und die niemals unter den Anwendungsbereich der Verwaltungsverfahrensgesetze gefallen waren.

Das Verfahren vor den österreichischen Vertretungsbehörden zur Erteilung von Sichtvermerken wird nicht von Art11 Abs2 B-VG erfaßt.

Die österreichischen Vertretungsbehörden im Ausland waren nämlich niemals - also auch nicht zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Art11 Abs2 B-VG (nF) - in ArtII EGVG als Behördentyp erwähnt, der die Verwaltungsverfahrensgesetze anzuwenden hatte; es existierte auch keine andere Rechtsvorschrift, der zufolge die genannten Behörden in Sichtvermerksangelegenheiten nach den Verwaltungsverfahrensgesetzen vorzugehen gehabt hätten.

Wenn nun durch §69 FremdenG besondere Bestimmungen für das Verfahren vor österreichischen Vertretungsbehörden in den von ihnen nach dem FremdenG zu vollziehenden Angelegenheiten (darunter die gegenständlichen Sichtvermerksangelegenheiten) getroffen wurden, ist es - weil für diese Behörden auf dem in Rede stehenden Verwaltungsgebiet das Regime des Art11 Abs2 B-VG nicht gilt - ausgeschlossen, daß diese neuen gesetzlichen Verfahrensregeln der zitierten Verfassungsbestimmung widersprechen.

Die österreichischen Vertretungsbehörden hatten in Sichtvermerksangelegenheiten die allgemeinen Verfahrensgrundsätze ("Grundsätze eines geordneten rechtsstaatlichen Verfahrens") - wie sie nunmehr im §69 FremdenG positiviert sind - zu beachten (vgl. zB VwGH 27.01.82, Zl 81/01/0297). §69 FremdenG reicht für den Rechtsschutz, wie er der Bundesverfassung zufolge zu gewähren ist, gerade noch hin.

Zu den allgemeinen Verfahrensgrundsätzen gehört auch die Verpflichtung, die getroffene behördliche Entscheidung zu begründen, um diese zumindest einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugänglich zu machen (siehe §69 Abs2 FremdenG).

Keine Verletzung des Beschwerdeführers (zu B966/93) im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Versagung der Erteilung eines Sichtvermerks.

Der Beschwerdeführer behauptete lediglich, Geschäftsanteile an einer in Bludenz ansässigen Gastwirtschafts-Gesellschaft m.b.H. zu besitzen, um deren Fortkommen er sich persönlich kümmern wolle. Andere Beziehungen zu Österreich machte er nicht geltend. Damit aber steht fest, daß die Versagung des Sichtvermerkes nicht in das durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Achtung des Privatlebens eingreift.

Verletzung der Zweitbeschwerdeführerin (zu B1089/93) im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Versagung der Erteilung eines Sichtvermerks infolge gravierender Verfahrensmängel.

Die Behörde war offenbar der Meinung - aus welchem Sichtvermerksversagungs-Tatbestand sie diese auch immer abgeleitet haben mag (§10 Abs1 Z3 FremdenG (?)) -, es sei entscheidungsrelevant, ob die Sichtvermerkswerberin in Österreich eine angemessene Wohnmöglichkeit haben werde. Sie kam zum Ergebnis, der Nachweis einer ortsüblichen Wohnung sei nicht gegeben und begründete dies lediglich damit, aus der von der Sichtvermerkswerberin vorgelegten Mietvertragskopie sei ersichtlich, "daß das Mietverhältnis am 30.04.93 erlischt" (gemeint war offenbar der die Wohnung des in Österreich lebenden Ehegatten der Sichtvermerkswerberin betreffende Mietvertrag). Mit der Feststellung der bevorstehenden Beendigung des Mietverhältnisses war aber keineswegs nachgewiesen, daß der seit Jahren legal in Österreich wohnende und hier arbeitende Ehegatte nach dem 30.04.93 keine andere Unterkunft haben werde, in die er die Sichtvermerkswerberin aufnehmen könnte. Die Behörde unterließ es, der Sichtvermerkswerberin Gelegenheit zu bieten, zu den Bedenken Stellung zu nehmen (siehe §69 Abs1 letzter Satz FremdenG) und die Partei anzuleiten, diese Bedenken durch ergänzende Vorbringen allenfalls auszuräumen (siehe §69 Abs1 erster Satz FremdenG).

Entscheidungstexte

Schlagworte

Bescheidbegriff, Fremdenrecht, VfGH / Legitimation, Bescheiderlassung, Geltungsbereich (zeitlicher) eines Gesetzes, Verwaltungsverfahren, Anwendbarkeit AVG, Rechtsschutz, Kompetenz Bund - Länder, Bedarfskompetenz, Kompetenz Bund - Länder Verwaltungsverfahren, Rechtsstaatsprinzip, Bescheidbegründung, Manuduktion, Privat- und Familienleben

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1994:B966.1993

Dokumentnummer

JFR_10059689_93B00966_01
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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