Index
40 VerwaltungsverfahrenNorm
EMRK Art6 Abs1 / VerfahrensgarantienLeitsatz
Verletzung im Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor einem Tribunal durch Absehen von einer Berufungsverhandlung vor dem Unabhängigen Verwaltungssenat in einem Verwaltungsstrafverfahren infolge Verhängung einer Geldstrafe von weniger als 500,- €; kein Verzicht des Beschwerdeführers auf eine VerhandlungSpruch
Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor einem Tribunal (Art6 Abs1 EMRK) verletzt worden.
Der angefochtene Bescheid wird aufgehoben.
Das Land Wien ist schuldig, dem Beschwerdeführer zu Handen seines Rechtsvertreters die mit € 2.142,- bestimmten Verfahrenskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Mit Straferkenntnis des Magistrats der Stadt Wien vom 17. September 2003, Zl. MA 67-PA-904829/3/1, wurde der Beschwerdeführer verurteilt, weil er dem Verlangen des Magistrats, innerhalb von zwei Wochen darüber Auskunft zu geben, wem er das ihm von der Zulassungsbesitzerin zur Verfügung gestellte Fahrzeug überlassen habe, welches am 19. August 2002 um 18.59 Uhr in der gebührenpflichtigen Kurzparkzone in Wien abgestellt gewesen wäre, nicht entsprochen hat.
Wegen dieses Vergehens wurde über ihn eine Geldstrafe in Höhe von € 120,- bzw. eine Ersatzfreiheitsstrafe von 43 Stunden verhängt.
2. In seiner gegen dieses Straferkenntnis erhobenen Berufung brachte der Beschwerdeführer vor, dass es ihm nicht möglich gewesen sei, den Lenker zu nennen, weil ihm das Fahrzeug im besagtem Zeitpunkt nicht zur Verfügung gestanden sei.
3. Der Magistrat der Stadt Wien (Magistratsabteilung 67) gab bekannt, dass er auf die Durchführung einer Verhandlung verzichte.
4. Der UVS gab der Berufung ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Bescheid vom 20. November 2003, Zl. UVS-05/K/47/8090/2003/2, insoweit Folge, dass er die verhängte Geldstrafe auf € 70,- und die für den Fall der Uneinbringlichkeit festgesetzte Ersatzfreiheitsstrafe auf 20 Stunden herabsetzte. Seine Beweiswürdigung traf der UVS aufgrund des Akteninhalts, insbesondere aufgrund der im erstinstanzlichen Verfahren vorgenommenen Erhebungen.
5. In seiner gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde gemäß Art144 B-VG behauptet der Beschwerdeführer unter anderem die Verletzung in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung im Verwaltungsstrafverfahren im Sinne des Art6 Abs1 EMRK. Er beantragt die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides.
6. Die belangte Behörde legte dem Verfassungsgerichtshof die Verwaltungsakten vor und beantragte - ohne eine Gegenschrift zu erstattet - die Abweisung der Beschwerde.
II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:
1.1. Der Beschwerdeführer behauptet die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisten Recht nach Art6 Abs1 EMRK. Er habe keinen ausdrücklichen Verzicht auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung erklärt, war nicht rechtsfreundlich vertreten und wurde in keiner Lage des Verfahrens auf die Möglichkeit eines Antrages auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung aufmerksam gemacht.
1.2. Art6 Abs1 EMRK normiert das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf eine mündliche Verhandlung vor einem Tribunal, das über zivilrechtliche Ansprüche und strafrechtlichen Anklagen zu entscheiden hat.
Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis VfSlg. 16624/2002 in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ausgesprochen hat, wird den Verfahrensgarantien des Art6 Abs1 EMRK durch ein Tribunal nur entsprochen, wenn dieses über volle Kognitionsbefugnis sowohl im Tatsachen- als auch im Rechtsfragenbereich verfügt. Da dem Verwaltungsgerichtshof - wie der EGMR im Fall Gradinger (EGMR vom 23.10.1995, ÖJZ 1995/51) festgestellt hat - im Gegensatz zum UVS keine volle Kognitionsbefugnis im Tatsachenbereich zukommt, muss die Verfahrensgarantie der mündlichen Verhandlung vom UVS erfüllt werden (vgl. dazu auch EGMR vom 20.12.2001, Fall Baischer, ÖJZ 2002/32).
In einem Strafverfahren, das vor einem Tribunal in einziger Instanz durchgeführt wird, folgt nach der Rechtsprechung des EGMR aus dem durch Art6 EMRK garantierten Recht, gehört zu werden, das Erfordernis einer mündlichen Verhandlung, von der nur in Ausnahmefällen abgesehen werden kann (so etwa EGMR vom 21.2.1990, Fall Håkansson und Sturesson gg. Schweden, Serie A Nr. 171-A, S 20, Rz. 64; EGMR vom 23.2.1994, Fall Fredin [Nr. 2] gegen Schweden, Serie A Nr. 283-A, S 10-11, Rz. 21-22; EGMR vom 19.2.1998, Fall Allan Jacobsson gegen Schweden, RJD 1998-I, S 168, Rz. 46).
2.1. Gemäß §51e Abs3 VStG kann der UVS
"von einer Berufungsverhandlung absehen, wenn
1. in die Berufung nur eine unrichtige rechtliche Beurteilung behauptet wird oder
2. sich die Berufung nur gegen die Höhe der Strafe richtet oder
3. im angefochtenen Bescheid eine 500 € nicht übersteigende Geldstrafe verhängt wurde oder
4. sich die Berufung gegen einen verfahrensrechtlichen Bescheid richtet und keine Partei die Durchführung einer Verhandlung beantragt hat. Der Berufungswerber hat die Durchführung einer Verhandlung in der Berufung zu beantragen. (...)"
In seinem Erkenntnis vom 18. Juni 2003, B1312/02, hat der Verfassungsgerichtshof zur Anwendung des §51e Abs3 VStG ausgesprochen, dass es verfassungswidrig wäre, allein aufgrund der Höhe der angefochtenen Geldstrafe (weniger als € 500,-) ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden. Die Bestimmung räumt jedoch Ermessen ein und lässt damit eine verfassungskonforme Anwendung im Einzelfall zu. Soweit es Art6 EMRK gebietet, muss der UVS - verfassungskonform - eine mündliche Verhandlung jedenfalls durchführen, sofern die Parteien nicht darauf verzichtet haben (vgl. VfSlg. 16624/2002).
2.2. Die Berufung richtet sich gegen einen Bescheid, mit dem eine Geldstrafe unter € 500,- verhängt wurde. Der Beschwerdeführer hat die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zwar nicht ausdrücklich beantragt, er hat aber auch nicht ausdrücklich darauf verzichtet. Es stellt sich daher die Frage, ob der UVS aufgrund dieses Schweigens einen konkludenten Verzicht des Beschwerdeführers annehmen durfte. Dieser war im Berufungsverfahren nicht rechtsfreundlich vertreten, sodass allein in der Unterlassung eines Antrags auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung noch kein konkludenter Verzicht gesehen werden kann.
2.3. Unter den Umständen des vorliegenden Falles kann sein Verhalten nicht als schlüssiger Verzicht auf sein Recht gedeutet werden:
Der Beschwerdeführer war nicht rechtsfreundlich vertreten. In seiner selbst verfassten Berufung lässt er nicht erkennen, dass er auf sein verfassungsgesetzlich gewährleistetes Recht auf Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung konkludent verzichtet hätte. Denn ein schlüssiger Verzicht auf ein Recht setzt dessen Kenntnis voraus (s. Erkenntnis vom 18.6.2003, B1312/02). Der Beschwerdeführer wurde weder im erstinstanzlichen Bescheid, noch im Berufungsverfahren über die Möglichkeit eines Antrags auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung belehrt. Er erhob schon im Jahr 2002 eine selbstverfasste Berufung an den UVS, Zl. UVS-03/P/41/6077/2002-2, in einer ähnlichen Angelegenheit, ohne darin einen Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu stellen. Damals entschied der UVS ohne Verhandlung, im Bescheid vom 29. September 2003 verwies er zur Begründung auf die Bestimmungen des §51e Abs3 Z1 und Z3 VStG. Für den vorliegenden Fall ist dieser Umstand jedoch ohne Bedeutung, weil der Beschwerdeführer seine Berufung gegen das Straferkenntnis des Magistrats der Stadt Wien vom 17. September 2003, Zl. MA 67-PA-904829/3/1, am 16. Oktober 2003 beim UVS einbrachte, ihm die erste Entscheidung, Zl. UVS-03/P/41/6077/2002-2, laut Zustellnachweis aber erst am 20. Oktober 2003 zugestellt wurde. Der Beschwerdeführer hätte somit zum Zeitpunkt der Einbringung seiner Berufung nicht von der Möglichkeit der Antragstellung wissen müssen (zur Frage des konkludenten Verzichts vgl. auch EGMR vom 3.10.2002, Fall Cetinkaya gg. Österreich, Appl.Nr. 61595/00).
2.4. Der Beschwerdeführer hat auf sein Recht auf die Durchführung der mündlichen Verhandlung daher nicht verzichtet. Die Unterlassung der Durchführung führt nicht nur zur Gesetz-widrigkeit des Bescheides, sondern hat - da im Beschwerdefall keine besonderen Gründe erkennbar sind, die im Lichte der Rechtsprechung des EGMR zu Art6 EMRK allenfalls den Entfall einer mündlichen Verhandlung rechtfertigen könnten (vgl. EGMR 19.2.1998, Fall Allan Jacobsson gegen Schweden, RJD 1998-I, S 154, Rz. 46ff.; EGMR 26.4.1995, Fall Fischer gegen Österreich, Serie A Nr. 312, Rz. 43f.) - auch die Verletzung des Art6 Abs1 EMRK zur Folge (vgl. auch die hg. Erkenntnisse vom 25. Februar 2003, B1421/02, sowie vom 22. September 2003, B1482/02).
3. Der angefochtene Bescheid war daher schon aus diesem Grund aufzuheben.
4. Der Kostenspruch beruht auf §88 VfGG. Im zugesprochenen Betrag ist Umsatzsteuer in Höhe von € 327,- enthalten.
5. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
Schlagworte
Auslegung verfassungskonforme, Ermessen, Unabhängiger Verwaltungssenat, Verwaltungsstrafrecht, Berufung, Verhandlung mündliche, ÖffentlichkeitsprinzipEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2004:B90.2004Dokumentnummer
JFT_09958870_04B00090_00