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10 VerfassungsrechtNorm
B-VG Art18 Abs1Leitsatz
Keine Stattgabe der Anfechtung der Volksabstimmung betreffend ein Bundesverfassungsgesetz über den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union; Gegenstand des Anfechtungsverfahrens vor dem Verfassungsgerichtshof allein Prüfung der Rechtmäßigkeit der Volksabstimmungsprozedur; keine Kontrolle der Rechtmäßigkeit des dem Referendum zu unterziehenden Gesetzesbeschlusses; Geltung des Grundsatzes der Freiheit der politischen Willensbildung und Betätigung und der Reinheit von Wahlen auch für das Volksabstimmungsverfahren; jedoch keine Existenz von organisierten Wahlparteien; "Werbung" für ein positives Abstimmungsergebnis nicht überschießend und unzulässig; kein zu kurzer Zeitraum zwischen der Anordnung einer Volksabstimmung durch den Bundespräsidenten und dem Tag der Abstimmung selbstRechtssatz
Keine Stattgabe der Anfechtung der Volksabstimmung vom 12.06.94 betreffend ein Bundesverfassungsgesetz über den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union.
Eine historische Interpretation des §14 Abs2 VolksabstimmungsG 1972 - dessen Wortlaut die zu lösende Frage nicht eindeutig beantwortet - zeigt, daß eine Anfechtung zulässig ist, wenn sie in mindestens einem Landeswahlkreis von der im Gesetz genannten Anzahl von Personen unterstützt wird.
Auch im Verfahren über die Anfechtung von Volksabstimmungen hat sich der Verfassungsgerichtshof nur auf die Prüfung zu beschränken, ob dem Abstimmungsverfahren die in der Anfechtungsschrift behaupteten Rechtswidrigkeiten anhaften.
Das Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof nach Art141 Abs3 B-VG iVm dem VolksabstimmungsG 1972 hat einzig und allein die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Volksabstimmungsprozedur zum Gegenstand, nicht die Kontrolle des dem Bundesvolk zur Abstimmung vorgelegten - nicht kundgemachten - Gesetzesbeschlusses des Nationalrates auf seine Verfassungsmäßigkeit.
Mit der Formulierung des konkreten Gesetzesbeschlusses (ArtI) wird unmißverständlich zum Ausdruck gebracht, daß über den Gesetzesbeschluß - nach dem Willen des Nationalrates - jedenfalls eine Volksabstimmung abzuhalten sei. Schon im Hinblick auf diesen Beschluß des Nationalrates hatte das Referendum zwingend stattzufinden; es wurde darum vom Bundespräsidenten (nach Beendigung des Verfahrens nach Art42 B-VG) zu Recht angeordnet.
Auf die Frage, ob es sich bei dem der Abstimmung
zugrundeliegenden Gesetzesbeschluß des Nationalrates um eine "Gesamtänderung der Bundesverfassung" iSd Art44 Abs3 B-VG handelt, war im (Anfechtungs-)Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof nach Art141 Abs3 B-VG - weil für die hier allein entscheidende Frage der Rechtmäßigkeit des Abstimmungsverfahrens unerheblich - nicht mehr einzugehen.
Mit dem Vorbringen, der Gesetzesbeschluß verstoße gegen Art4 StV Wien 1955 (über das Verbot einer politischen oder wirtschaftlichen Vereinigung zwischen Österreich und Deutschland), gegen das NeutralitätsG und gegen Art18 B-VG, werden keine Rechtswidrigkeiten des (Abstimmungs-)Verfahrens behauptet, wie sie im vorliegenden Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof rügbar sind.
Weder der Bundesregierung noch anderen verantwortlichen Staatsorganen ist die rechtliche Möglichkeit zur Verhinderung einer das Objektivitätsgebot verletzenden Berichterstattung eingeräumt, wie sie dem ORF nach Auffassung des Anfechtungswerbers zur Last fällt. Zwischen allfälligen Gesetzesverstößen, die Organe des ORF zu verantworten haben, und dem (Volksabstimmungs-)Verfahren läßt sich daher kein maßgebender rechtlicher Zusammenhang herstellen; allfällige Verletzungen des RundfunkG können darum nicht als Rechtswidrigkeiten dieses (Volksabstimmungs-)Verfahrens gewertet werden.
Art26, Art95 und Art117 Abs2 B-VG liegt das Prinzip der "Reinheit", verstanden im Sinn von "Freiheit" der Wahlen zugrunde. Einem freien Wahlrecht (Art8 StV Wien 1955, Art3 des 1. ZP zur EMRK) entspricht die "Freiheit der politischen Willensbildung und Betätigung" und das Postulat der "Reinheit der Wahlen", in deren Ergebnis der wahre Wille der Wählerschaft zum Ausdruck kommen soll; die Wahlwerbung darf nicht sinnwidrig beschränkt und der Wähler in der Freiheit seiner Wahl nicht in rechtlicher oder faktischer Weise beeinträchtigt werden.
Aus Art26 Abs6 B-VG ergibt sich, daß diese Regeln grundsätzlich auch auf das Verfahren für Volksabstimmungen nach Art43 und Art44 Abs3 B-VG iVm Art46 B-VG zu übertragen sind.
Die Werbung für ein bestimmtes Abstimmungsverhalten darf dabei im Rahmen der allgemeinen Rechtsordnung in keiner wie immer gearteten Weise (rechtlich oder faktisch) unterbunden oder auch nur beeinträchtigt werden, so zB auch nicht durch - staatliche - gezielte oder dem gleichkommende massive Desinformation, die im Effekt zur Fehlorientierung der abstimmungsberechtigten Bürger führt.
Da im Verfahren für Volksabstimmungen (über die Entscheidung des gewählten Nationalrates) von "Wahlparteien" nicht gesprochen werden kann, ist der Auffassung, potentielle "Nein"-Wähler seien gleichsam eine organisierte Wahlpartei und wie eine solche Wählergruppe zu behandeln, von vornherein der Boden entzogen.
Der Verfassungsgerichtshof vermag nicht zu erkennen, daß die "Werbung" für ein positives Abstimmungsergebnis im vorliegenden Fall überschießend und unzulässig gewesen sei, zumal dem Anfechtungswerber entgegenzuhalten ist, daß ein beträchtlicher Teil der von ihm als "Werbung" eingestuften Aktivitäten als (neutrale) Öffentlichkeitsarbeit mit bloßem Informationscharakter (zu Problemen der europäischen Integration) angesehen werden muß.
Den Mitgliedern der Bundesregierung steht es wie etwa auch den sonstigen obersten Organen der Vollziehung und den Abgeordneten zu den gesetzgebenden Körperschaften jedenfalls frei, in Unterstützung und Verfolgung der Regierungspolitik Empfehlungen zur Volksabstimmung über einen - auf Grund einer Regierungsvorlage - verabschiedeten Gesetzesbeschluß abzugeben und dafür auch öffentlich einzutreten.
Daß diese Aktivität im konkreten Fall, zB durch staatliche Desinformation, bereits in eine faktische Beeinträchtigung der sog. Beitrittsgegner in ihrer freien Abstimmungsentscheidung umgeschlagen sei und damit die Zulässigkeitsgrenze überschritten habe, ist nicht zu erkennen.
Gegen die - bestimmte Fristen festlegenden - Vorschriften des VolksabstimmungsG 1972 (§6 Abs4, §7 Abs1) - bestehen aus der Sicht dieses Falles keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Insoweit unterlief im (Volksabstimmungs-)Verfahren auch keine vom Verfassungsgerichtshof aufzugreifende Rechtswidrigkeit. Im übrigen kann der Verfassungsgerichtshof nicht finden, daß die vom Anfechtungswerber als unzulänglich gewertete Zeitspanne zwischen der Kundmachung der Entschließung des Bundespräsidenten und dem Abstimmungstag für den erforderlichen Meinungsbildungsprozeß in der Öffentlichkeit den Umständen nach nicht ausgereicht habe, zumal hier die lange Jahre auf allen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Ebenen laufende rege und allgemeine Diskussion zur Frage des EG-(EU-)Beitritts nicht außer Betracht bleiben kann.
Es ist verfassungsgemäß, wenn §4 VolksabstimmungsG 1972 - in Berücksichtigung des Umstandes, daß es bei Volksabstimmungen "wahlwerbende Parteien" nicht gibt - jene Wahlbehörden zur Durchführung und Leitung von Volksabstimmungen beruft, die nach den Vorschriften der NRWO 1992 jeweils im Amt sind.
Der Anregung, den Gesetzesbeschluß des Nationalrates betreffend ein Bundesverfassungsgesetz über den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union aufzuheben, konnte der Verfassungsgerichtshof schon deshalb nicht folgen, weil er bloß unselbständige Schritte des Gesetzgebungsverfahrens nicht auf ihre Verfassungsmäßigkeit untersuchen darf.
Entscheidungstexte
Schlagworte
Volksabstimmung, Rundfunk, EU - Beitritt, Neutralität, Wahlen, Wahlrecht freies, Wählergruppe, Wahlpartei, Werbung, Determinierungsgebot, Gesamtänderung (der Bundesverfassung)European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1994:WI6.1994Dokumentnummer
JFR_10059170_94W00I06_2_01