Index
60 ArbeitsrechtNorm
B-VG Art18 Abs1Leitsatz
Zulässigkeit der Individualanträge auf Aufhebung eines Mantelkollektivvertrags und der Lohn- und Gehaltstabellen für das graphische Gewerbe; Provokation eines gerichtlichen Verfahrens nicht zumutbar; keine Bedenken gegen die gesetzlichen Grundlagen der Satzung; kein Verstoß gegen das Determinierungsgebot und keine dynamische Verweisung bei der Normierung der Satzungserklärung von Kollektivvertragsbestimmungen; Koalitionsfreiheit iSd Art11 EMRK nicht berührt; rechtsstaatliche Erfordernisse durch Kontrolle der Gesetzmäßigkeit der Satzungserklärung durch den Verfassungsgerichtshof zur Genüge erfüllt; Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen der überwiegenden Bedeutung und der Gleichartigkeit der Arbeitsverhältnisse; keine Gesetzwidrigkeit der kurzfristigen RückwirkungRechtssatz
Zulässigkeit der Individualanträge auf Aufhebung des am 01.01.92 in Kraft getretenen, zu KV 454/1991 hinterlegten Kollektivvertrages für das graphische Gewerbe - Mantelvertrag für Arbeiter, Sonderbestimmungen, Kollektivvertrag für gewerbliche Lehrlinge und Kollektivvertrag für technische Angestellte (kurz: Mantelkollektivvertrag) für das Land Steiermark durch Erklärung des Bundeseinigungsamtes vom 01.04.92 (Register II S 4/1992/X/42/2) und der am 30.03. bzw am 01.04.92 in Kraft getretenen, zu KV 117/1992 hinterlegten Vereinbarung betreffend die Lohntabellen und die Gehaltstabellen für technische Angestellte zum Kollektivvertrag für das graphische Gewerbe Österreichs samt Lohn- und Gehaltstabellen (kurz: Lohn- und Gehaltstabellen) für das gesamte Bundesgebiet durch Erklärung des Bundeseinigungsamtes vom 15.05.92 (Register II S 6/1992/X/42/3).
Die Satzung ist als genereller Verwaltungsakt eine Verordnung (VfSlg. 2410/1952), welche in die Rechtssphäre der von ihr erfaßten Arbeitgeber eingreift (VfSlg. 12827/1991). Angesichts der arbeitsrechtlichen Folgen einer auch nur teilweisen (rechtswidrigen) Nichtleistung des Entgelts, der Ungewißheit der Anspruchsverfolgung durch die betroffenen Arbeitnehmer und der fraglichen Wirkung einer Zahlung unter Vorbehalt der Rückforderung (der sich Arbeitnehmer nicht ohne weiteres fügen müssen) hält der Verfassungsgerichtshof die Provokation eines gerichtlichen Verfahrens für keinen zumutbaren Weg, die Gesetzwidrigkeit einer Satzung an den Verfassungsgerichtshof heranzutragen (vgl. VfGH 17.12.93, G48/93, V13/93).
Auch das besondere Feststellungsverfahren nach §54 ASGG ist seiner Zielsetzung nach dafür nicht geeignet. Die rechtliche Möglichkeit, einen Feststellungsbescheid zu erlassen, beseitigt die Zulässigkeit des Individualantrages nach Art140 Abs1 B-VG dann nicht, wenn der einzige Zweck des Feststellungsverfahrens darin bestünde, damit ein Mittel zu gewinnen, um die gegen eine Norm bestehenden verfassungsrechtlichen Bedenken an den Verfassungsgerichtshof heranzutragen (VfSlg. 12227/1989 mwN). Das muß auch im Bereich gerichtlicher Feststellungsverfahren gelten, wenn sich die Betroffenheit auf eine jeden Zweifel ausschließende Weise aus der Norm selbst ergibt.
Abweisung der Individualanträge.
Gegen die gesetzlichen Grundlagen der Satzungserklärung bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken.
Die verbindliche Wirkung außerhalb seines Geltungsbereichs wird in §18 ArbVG dem Kollektivvertrag selbst zugesprochen, nicht etwa sein Inhalt zum Inhalt einer Verordnung gemacht. Die Qualität einer Verordnung kommt daher nur der Satzungserklärung selbst, nicht auch dem Inhalt des gesatzten Kollektivvertrages zu.
Die in der Satzung als rechtsverbindlich bezeichneten Bestimmungen des Kollektivvertrages, welche die Satzung bilden, bleiben somit Inhalt des Kollektivvertrages; sie bedürfen folglich - wie dieser - keiner Determinierung durch das Gesetz. Unter welchen Voraussetzungen der Geltungsbereich des Kollektivvertrages aber erweitert werden darf (und muß), ist durch die gesetzlichen Vorschriften inhaltlich ausreichend bestimmt.
Verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Satzung und Kollektivvertrag.
Der Verfassungsgesetzgeber hat das Institut der Satzung (im Einigungsamtsgesetz 1919, StGBl. 16/1920, §18 Abs2) ebenso vorgefunden wie das des Kollektivvertrages. Zweck der Satzung ist die Absicherung und Ergänzung der Kollektivverträge. Der Satzung kann ebensowenig ein Mangel inhaltlicher Determinierung vorgeworfen werden wie dem Kollektivvertrag, und die Vorstellung einer verbotenen dynamischen Verweisung ist verfehlt.
Das in Art11 EMRK allen Menschen garantierte Recht, sich frei mit anderen zusammenzuschließen, einschließlich des Rechtes, zum Schutz ihrer Interessen Gewerkschaften zu bilden und diesen beizutreten, wird durch die Erklärung eines Kollektivvertrages zur Satzung nicht berührt. Das gilt auch von der Möglichkeit, einer Koalition fernzubleiben. Im Hinblick auf die Funktionsfähigkeit des Systems kollektiver Rechtsgestaltung kann der Verfassungsgerichtshof die faktischen Auswirkungen nicht als unzulässig ansehen und darin keinen Eingriff in die Koalitionsfreiheit erblicken. Schon angesichts des Vorranges der freiwilligen Berufsvereinigung verletzt auch die Mitgliedschaft zu einer mit Kollektivvertragsfähigkeit ausgestatteten gesetzlichen Interessenvertretung die Koalitionsfreiheit nicht.
Den rechtsstaatlichen Erfordernissen ist durch die Kontrolle der Gesetzmäßigkeit der Satzungserklärung durch den Verfassungsgerichtshof Genüge getan. Im Verfahren zur Erlassung einer generellen Norm verlangt das Bundesverfassungsrecht keine Parteistellung der Betroffenen. Die von der Satzungserklärung berührten kollektivvertragsfähigen Körperschaften der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer haben Gelegenheit, ihren Standpunkt im Verfahren vorzutragen (§20 Abs2 ArbVG). Auch die Antragsberechtigung der Kollektivvertragsparteien - und zwar sowohl der Arbeitgeber- wie der Arbeitnehmerseite - ist verfassungsrechtlich unbedenklich. Die in den Anträgen bezogene Rechtsprechung betrifft nur die verfassungsrechtlich verankerten obersten Organe der Vollziehung (vgl. zB VfSlg. 12183/1989, 12506/1990 und 12843/1991). Das Bundeseinigungsamt ist jedoch kein oberstes Organ im Sinne des Art20 Abs1 B-VG. Zweifel an der Sachlichkeit der Antragsberechtigung bestehen angesichts der Funktion der Satzung nicht.
Daß die Mitglieder des Bundeseinigungsamtes über Vorschlag der Interessenvertretungen bestellt werden, verstößt gegen keine Verfassungsbestimmung (VfSlg. 10530/1985, 11069/1986; vgl. auch VfSlg. 13016/1992).
Der Verfassungsgerichtshof kann auch der Annahme der Behörde nicht entgegentreten, die gesatzten Kollektivverträge hätten überwiegende Bedeutung erlangt (§18 Abs3 Z2 ArbVG) und die von der Satzung erfaßten Arbeitsverhältnisse seien gleichartig (Z3).
Die Arbeitsverhältnisse im gesamten Geltungsbereich eines Kollektivvertrags müssen zu jenen Verhältnissen in Beziehung gesetzt werden, die von der Satzung erfaßt werden sollen. Angesichts der Aufgabe der Satzung, nicht nur die fehlende Organisationszugehörigkeit von Arbeitgebern, sondern auch den räumlichen, fachlichen und persönlichen Geltungsbereich des Kollektivvertrages zu überschreiten, ist nur bei diesem Verständnis des Begriffs "überwiegende Bedeutung" gewährleistet, daß der Kollektivvertrag auch im Ergebnis die überwiegende Bedeutung besitzt. Die Behörde ist daher zu Recht von gesamtösterreichischen Verhältnissen ausgegangen und hat auch jene Arbeitgeber-Außenseiter in den Vergleich mit einbezogen, die im restlichen Bundesgebiet durch die Satzungserklärung erfaßt wurden. Demnach steht die überwiegende Bedeutung des gesatzten Kollektivvertrages außer Zweifel.
Der Hinweis auf die nur einigen Unternehmen zukommende Presseförderung allein erweckt im Gerichtshof keine Bedenken gegen die Gesetzmäßigkeit der Satzungserklärung wegen mangelnder Gleichartigkeit der Arbeitsverhältnisse.
Die kurzfristige Rückwirkung der angefochtenen Satzungserklärungen ist nicht gesetzwidrig.
Die durch die hier angegriffenen Erklärungen gesatzten Kollektivverträge sind ihrerseits schon mit einem vor ihrer Kundmachung in der Wiener Zeitung liegenden Zeitpunkt in Kraft gesetzt worden. Diese Auslegung des §11 Abs2 ArbVG ist im Hinblick auf die Bedeutung des Kollektivvertrages für die Arbeitsverhältnisse und das Bestreben des Gesetzgebers, nur den Rahmen der Regelungsmacht der Kollektivvertragsparteien abzustecken, durchaus plausibel und insoweit verfassungsrechtlich unbedenklich, als sie nicht zur Enttäuschung berechtigten Vertrauens auf eine gegebene Rechtslage führt. Die für Kollektivverträge maßgebliche Rechtslage gilt aber kraft Verweisung des §19 Abs1 ArbVG auch für die Satzung. Auch ihr soll offenbar ein rascher Anschluß an die frühere Rechtslage ermöglicht werden (vgl. §20 Abs3 ArbVG).
(siehe auch E v 12.10.94, V13,14/94 - Begründung verweist auf V85/92 ua; ebenso: E v 28.11.94, V86/94 und V137/94).
Entscheidungstexte
Schlagworte
VfGH / Individualantrag, Feststellungsbescheid, Zivilprozeß, Arbeits- u Sozialgerichtsbarkeit, Arbeitsverfassung, Kollektivvertrag, Satzung, Verordnungsbegriff, Legalitätsprinzip, Verweisung dynamische, Determinierungsgebot, Koalitionsrecht, Bundeseinigungsamt, Behördenzusammensetzung, Rechtsstaatsprinzip, Oberste Organe der Vollziehung, Verordnungserlassung, Parteistellung Verordnungserlassung, Rückwirkung, Vertrauensschutz, Anhörungsrecht (bei Verordnungserlassung)European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1994:V85.1992Dokumentnummer
JFR_10059071_92V00085_01