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L6 Land- und ForstwirtschaftNorm
B-VG Art7 Abs1 / AllgLeitsatz
Verletzung im Gleichheitsrecht durch die Abweisung von Anträgen verheirateter Frauen auf Aufnahme in die jeweilige Agrargemeinschaft aufgrund der Anwendung wegen ihres Widerspruchs zum Gleichheitsgrundsatz nichtiger Satzungsbestimmungen; keine sachliche Rechtfertigung der Ausgrenzung von Frauen zur Reduzierung oder Verhinderung des Ansteigens der Mitgliederzahl von AgrargemeinschaftenRechtssatz
Bei seiner - im Rahmen des Art144 B-VG vorzunehmenden - Nachprüfung der bekämpften Bescheide (Abweisung der Anträge verheirateter Frauen auf Aufnahme in die jeweilige Agrargemeinschaft) wird auch der Verfassungsgerichtshof die Satzungen der Agrargemeinschaften (und zwar jedenfalls deren §6 litb) heranzuziehen haben.
Keine Verordnungsqualität der Satzungen der Agrargemeinschaften nach dem Vlbg FlVfLG (siehe VfSlg. 12279/1190).
Derartige Satzungen sind von den Statuten eines Vereines nach dem VereinsG 1951 zu unterscheiden, die im Rahmen der Privatautonomie die Beziehungen der Mitglieder untereinander und zum Verein weitestgehend beliebig ausgestalten können.
Alle Behörden, aber auch der Verfassungsgerichtshof sind grundsätzlich an die aufsichtsbehördlich genehmigte Satzung (der Agrargemeinschaften) gebunden (vgl. auch VwGH 10.04.90 Zl. 86/07/0014 und 19.03.91 Zl. 90/07/0003).
Diese Bindung enthebt aber weder die Verwaltungsbehörde noch den Verfassungsgerichtshof der Aufgabe zu untersuchen, mit welchem Text die Satzung dem Rechtsbestand angehört und welcher normative Satzungsinhalt sich daraus ergibt.
Die Agrargemeinschaften handeln nicht im privatautonomen Bereich, sondern besorgen die ihnen durch Gesetz übertragenen öffentlichen Aufgaben.
Aus der besonderen, vom Vlbg FlVfLG verfügten Konstruktion der Organisation der Agrargemeinschaften und der Zuweisung öffentlicher Aufgaben an sie ergibt sich, daß für die sie konstituierenden Rechtsakte (die Satzungen) dieselben grundrechtlichen Schranken gelten wie sonst für generelle staatliche Normen.
Demnach gilt auch für solche Satzungen, daß sie dem Gleichheitsgrundsatz entsprechen müssen. Daher sind diesem Verfassungsgebot zuwiderlaufende Satzungsbestimmungen mangels eines besonderen Normenkontrollverfahrens als nichtig zu behandeln (§879 ABGB).
Die belangte Behörde hat sich bei ihren Entscheidungen auf Satzungsbestimmungen (§6 litb der Satzung der Agrargemeinschaft Bürs und der Satzung der Agrargemeinschaft Tisis) berufen, die - wegen Widerspruchs zum Gleichheitsgrundsatz - nichtig sind.
Die in beiden Satzungen (jeweils im §6 litb) aufscheinende Bestimmung, daß bei Töchtern von Mitgliedern während der Zeit ihrer Verheiratung die Mitgliedschaft ruht, unterscheidet zwischen Töchtern und Söhnen, also zwischen Männern und Frauen, ohne daß für diese Diskriminierung der Frauen ein sachlicher Grund erkennbar wäre.
Mag sein, daß die Reduzierung oder die Verhinderung des Ansteigens der Anzahl der Mitglieder der Agrargemeinschaften erforderlich ist. Dieses Ziel darf aber nicht durch die Ausgrenzung allein von Frauen (also nicht auch von Männern) erreicht werden; hiefür fehlt jede sachliche Rechtfertigung.
Entscheidungstexte
Schlagworte
Bodenreform, Flurverfassung, Satzung, Agrargemeinschaft, VfGH / Prüfungsmaßstab, Verordnungsbegriff, Privatautonomie, Vereinsrecht, VfGH / Bindung, Bindung (des VfGH), Bindung (der Verwaltungsbehörden), Körperschaften öffentlichen Rechts, Privatwirtschaftsverwaltung, Hoheitsverwaltung, Nichtigkeit absolute, Gleichheit Frau-Mann, geschlechtsspezifische DifferenzierungenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1994:B2083.1993Dokumentnummer
JFR_10058788_93B02083_01