RS Vfgh 1994/12/14 B1400/92

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Veröffentlicht am 14.12.1994
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Index

63 Allgemeines Dienst- und Besoldungsrecht
63/01 Beamten-Dienstrechtsgesetz 1979

Norm

StGG Art17
EMRK Art10
BDG 1979 §43 Abs1
BDG 1979 §43 Abs2
BDG 1979 §44 Abs1
BDG 1979 §91

Leitsatz

Kein Verstoß von Bestimmungen des BDG 1979 über Dienstpflichten desBeamten gegen das Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung bzw dasRecht der Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre als Sonderfalldes Rechts auf Meinungsäußerungsfreiheit; Verletzung derMeinungsäußerungsfreiheit durch Verhängung einer Disziplinarstrafeüber einen Beamten des Rechnungshofes wegen Dienstpflichtverletzunginfolge denkunmöglicher Anwendung von Bestimmungen überDienstpflichten bei Besorgung dienstlicher Aufgaben auf einaußerdienstliches Verhalten des Beamten, nämlich die Äußerung einerherabsetzenden Pauschalkritik am Rechnungshof in einem Vortrag undzwei Artikeln in Fachzeitschriften; keine Verletzungverfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte durch Feststellung derauch auf außerdienstliches Verhalten bezogenenDienstpflichtverletzung der Beeinträchtigung des Vertrauens derAllgemeinheit in die sachliche Wahrnehmung der dienstlichen Aufgabendurch die Äußerungen des Beschwerdeführers

Rechtssatz

Das durch Art17 StGG verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht der Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre - ein Sonderfall des Rechtes auf Freiheit der Meinungsäußerung - umfaßt das Recht der unbehinderten wissenschaftlichen Forschung und das Recht der unbehinderten Lehre der Wissenschaft. Jedermann, der wissenschaftlich forscht oder lehrt, darf hiebei vom Staat keinen spezifischen, intentional auf die Einengung dieser Freiheit gerichteten Beschränkungen unterworfen werden.

Auch die nicht durch einen ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt eingeschränkten ("absoluten") Grundrechte sind nur innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze gewährleistet ("immanente Grundrechtsschranken").

Ein durch Bescheid vorgenommener Eingriff in die Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre, der die wissenschaftliche Tätigkeit verhindert oder auch nur beschränkt, ist nur dann zulässig, wenn er zum Schutz eines anderen Rechtsgutes erforderlich und verhältnismäßig ist.

§43 Abs1 und Abs2 sowie §44 Abs1 BDG 1979 stehen zu Art10 EMRK nicht in Widerspruch. Soweit ihnen (auch) eine Einschränkung der Freiheit der Meinungsäußerung innewohnt, können sie zweifellos als Vorschriften angesehen werden, die in Art10 Abs2 EMRK ihre Deckung finden.

Die in Rede stehenden Vorschriften zielen keineswegs darauf ab, das Grundrecht der Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre zu beschränken.

Sie finden auf öffentlich-rechtliche Bedienstete des Bundes auch insoweit Anwendung, als diese - dienstlich oder außerdienstlich - im Bereich der Wissenschaft und/oder ihrer Lehre tätig sind; sie sind nicht wegen Eingriffes in dieses Grundrecht verfassungswidrig.

§43 Abs1 und §44 Abs1 BDG 1979 beziehen sich auf die Besorgung der dienstlichen Aufgaben des Beamten.

Es gibt keinen stichhaltigen Anhaltspunkt dafür, daß der Beschwerdeführer in Besorgung seiner dienstlichen Aufgaben - als Stellvertreter des Leiters der Grundsatzabteilung des Rechnungshofes - gehandelt hat, als er einen Vortrag beim "Jubiläumsseminar - 175 Jahre Technische Universität Wien" hielt und zwei Artikel in den Zeitschriften "Finanznachrichten" und "Der öffentliche Sektor" verfaßte. Es ist nämlich weder ersichtlich, daß diese Tätigkeiten zur Wahrnehmung der Aufgaben seines Arbeitsplatzes (§36 Abs1 BDG 1979) gehörten noch auch, daß sie ihm etwa zusätzlich übertragen worden wären.

Es verletzt daher der angefochtene Bescheid den Beschwerdeführer, soweit er ihm eine Verletzung seiner Dienstpflichten durch ein Zuwiderhandeln gegen §43 Abs1 und gegen §44 Abs1 BDG 1979 zur Last legt, wegen denkunmöglicher Anwendung dieser Vorschriften im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung.

§43 Abs2 BDG 1979 bezieht sich auf das gesamte Verhalten des Beamten, demnach also auch auf das außerdienstliche.

Die Möglichkeit zur sachlichen, in der gebotenen Form geäußerten Kritik muß auch einem Beamten gegenüber der Behörde, der er angehört, offenstehen. Eine disziplinäre Verantwortlichkeit begründet eine solche Kritik dort, wo sie die durch die Pflicht zur Amtsverschwiegenheit und durch §43 Abs2 BDG 1979 gezogene Grenze überschreitet, indem sie geeignet ist, das Vertrauen der Allgemeinheit in die sachliche Wahrnehmung der dienstlichen Aufgaben des Beamten zu beeinträchtigen.

Die Auffassung der Disziplinaroberkommission, die dem Beschwerdeführer zur Last gelegten, unter Berufung auf seine verantwortliche Funktion im Rechnungshof und unter Verwertung seines daraus erworbenen Wissens über den Rechnungshof gemachten, eine herabsetzende Pauschalkritik an dieser Institution enthaltenden Äußerungen erfüllten den in §43 Abs2 BDG 1979 umschriebenen Tatbestand, ist selbst dann vertretbar, wenn sie nicht auf jede dieser Äußerungen zutreffen sollte.

Der angefochtene Bescheid verletzt demnach, soweit mit ihm dem Beschwerdeführer eine Verletzung des §43 Abs2 BDG 1979 als schuldhafte Verletzung von Dienstpflichten zur Last gelegt wird, den Beschwerdeführer nicht in dem durch Art10 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht.

(vgl dazu auch VwGH Zl. 97/09/0106, E v 28.07.00: Aufhebung des nach dem E v 14.12.94, B 1400/92, verbliebenen Restbestandes des angefochtenen Bescheides).

Entscheidungstexte

Schlagworte

Wissenschaftsfreiheit, Dienstrecht, Dienstpflichten,Disziplinarrecht Beamte, Standes- und Amtspflichten,Meinungsäußerungsfreiheit, Amtsverschwiegenheit, Grundrechte,Gesetzesvorbehalt

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1994:B1400.1992

Zuletzt aktualisiert am

07.06.2011
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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