RS Vfgh 1995/3/1 G266/94, G267/94

JUSLINE Rechtssatz

Veröffentlicht am 01.03.1995
beobachten
merken

Index

L0 Verfassungs- und Organisationsrecht
L0300 Landtagswahl

Norm

B-VG Art95
B-VG Art140 Abs1 / Präjudizialität
Sbg LandtagswahlO 1978 §1 Abs2
Sbg LandtagswahlO 1978 §10
Sbg LandtagswahlO 1978 §94 Abs1
Sbg LandtagswahlO 1978 §95 Abs1 und Abs2
Sbg Landes-VerfassungsG 1945 Art13 Abs2
VfGG §67 Abs1

Leitsatz

Aufhebung von Bestimmungen des Sbg Landes-VerfassungsG 1945 und der Sbg LandtagswahlO 1978 über die Wahlbezirkseinteilung und die Mandatsverteilung wegen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältniswahl durch Annäherung an ein Mehrheitswahlrecht angesichts der Notwendigkeit von mehr als 50 Prozent der Stimmen in einem bestimmten Wahlkreis; Präjudizialität sämtlicher bedenklicher Normen in den Grenzen der im Anlaßfall behaupteten Rechtswidrigkeit des Wahlverfahrens - nämlich Wahldurchführung aufgrund mehrerer dem Verhältniswahlprinzip zuwiderlaufender Vorschriften - gegeben, auch bei zu eng gehaltenem Antrag auf Nichtigerklärung des Wahlverfahrens

Rechtssatz

Art13 Abs2 Sbg Landes-VerfassungsG 1945 sowie §1 Abs2, §10, die Worte "und gemäß §95 Abs1 nicht von der Zuweisung von Restmandaten ausgeschlossen sind" in §94 Abs1, §95 Abs1 und die Wendung "gemäß Abs1 in Betracht kommenden" in §95 Abs2 Sbg LandtagswahlO 1978 werden wegen Verstoß gegen Art95 B-VG als verfassungswidrig aufgehoben.

Der Verfassungsgerichtshof hat sämtliche im Prüfungsbeschluß bezeichneten, ihm verfassungsrechtlich bedenklich erscheinenden Gesetzesstellen, weil er sie bei der Entscheidung über die Wahlanfechtung in den Grenzen der behaupteten Rechtswidrigkeit, di. hier die Wahldurchführung aufgrund mehrerer dem Verhältnismäßigkeitsprinzip zuwiderlaufender und damit verfassungswidriger Vorschriften, anwenden muß, jedenfalls und ausnahmslos von Amts wegen auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen.

Ebensowenig wie die Nennung bedenklich erachteter Gesetzesstellen in der Anfechtungsschrift kann ein etwa zu eng gehaltener Antrag auf Nichtigerklärung des Wahlverfahrens iSd §67 Abs1 Satz 2 VfGG den Verfassungsgerichtshof an der (amtswegigen) Prüfung aller jener Normen hindern, die er bei seiner Entscheidung über die Wahlanfechtung in den Grenzen der behaupteten Rechtswidrigkeit (des Wahlverfahrens) anzuwenden hat.

Der Boden des Verhältniswahlrechts wird nicht erst dann verlassen, wenn ein Wahlrecht das Mehrheitswahlsystem im ganzen Landesgebiet und in voller Reinheit (etwa mit nur einem einzigen zu vergebenden Mandat in jedem Wahlkreis) verwirklicht. Vielmehr widerspricht eine Landtagswahlordnung dem B-VG schon dann, wenn sie ein Wahlrecht schafft, das auf einen Systemwechsel zur Mehrheitswahl "hinausläuft", dh. das sich einem Mehrheitswahlrecht in reiner Ausprägung sehr annähert.

Verfassungsrechtlich ausschlaggebend ist, daß zum einen nach der Sbg LandtagswahlO 1978 für ein Mandat in einem bestimmten Wahlkreis, nämlich dem Wahlkreis Tamsweg, im Regelfall mehr als 50 Prozent der abgegebenen Stimmen notwendig sind und diese hohe Eintrittsschwelle nicht durch eine alternative Prozentklausel abgeschwächt wird, und daß zum anderen das B-VG in seinem Art95 Abs3 idF vor dem BVG BGBl. 504/1994, aber auch idF dieses BVG den Grundsatz der wahlkreisweisen Repräsentation vorsieht. Eben dieser Grundsatz läßt es nicht zu, sich über das gesetzliche Stimmenerfordernis im Wahlkreis Tamsweg (mehr als 50 Prozent) mit Berufung auf eine Durchschnittsbetrachtung für das gesamte Gebiet des Bundeslandes Salzburg hinwegzusetzen, und zwar mit dem Ergebnis, daß (wenngleich nur) im Wahlkreis Tamsweg alle für einen Kandidaten abgegebenen Stimmen, die keine Mehrheit ergeben, jedenfalls und endgültig verloren gehen müssen.

Da das B-VG (s. Art95) sich darauf beschränkt, den Grundsatz der Verhältniswahl aufzustellen, also sich nicht auf eine besondere Art des Verhältniswahlverfahrens festlegt, vielmehr die nähere Bestimmung des besonderen Verhältniswahlsystems und seiner Anwendung der einfachen Gesetzgebung überläßt, wies die Salzburger Landesregierung zwar vollkommen zu Recht auf den weiten Gestaltungsfreiraum des Gesetzgebers in einzelnen dieser Fragen hin; sie übersieht jedoch, daß diese Gestaltungsfreiheit die ihr in der Beschränkung des Verhältnismäßigkeitsprinzips im maßgebenden Sinn verfassungsgesetzlich gezogenen Grenzen dort überschreitet, wo, wie hier, in einem bestimmten Wahlkreis regelmäßig mehr als 50 Prozent der Stimmen notwendig sind, um gewählt zu werden.

Entscheidungstexte

  • G 266,267/94
    Entscheidungstext VfGH Erkenntnis 01.03.1995 G 266,267/94

Schlagworte

VfGH / Prüfungsumfang, VfGH / Präjudizialität, Wahlen, Verhältniswahl, Wahlkreise, Landtag

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1995:G266.1994

Dokumentnummer

JFR_10049699_94G00266_01
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten