RS Vfgh 1995/6/17 B2343/94, B2713/94

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Veröffentlicht am 17.06.1995
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Index

60 Arbeitsrecht
60/02 Arbeitnehmerschutz

Norm

B-VG Art11 Abs2
B-VG Art18 Abs1
ArbeitsinspektionsG §9
ArbeitszeitG §28

Leitsatz

Keine Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte durch die Verhängung von Verwaltungsstrafen wegen Übertretungen des Arbeitszeitgesetzes durch ein Transportunternehmen aufgrund Vernachlässigung der Verpflichtung des Arbeitgebers zur Ermöglichung der Einhaltung der Einsatzzeit und zur Vorsorge für die Führung eines Fahrtenbuches durch den Lenker; keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Blankettstrafnorm des ArbeitszeitG; keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Anzeigepflichten des Arbeitsinspektorates auch ohne vorheriges Aufforderungsverfahren zur Herstellung des rechtmäßigen Zustandes an den Arbeitgeber

Rechtssatz

Die Arbeitsinspektorate sind Organe der staatlichen Verwaltung, deren Tätigkeit gemäß Art18 Abs1 B-VG entsprechender gesetzlicher Ermächtigung bedarf.

Der Verfassungsgerichtshof versteht die Bestimmung des §9 Abs3 ArbeitsinspektionsG in der Weise, daß das Arbeitsinspektorat zu einer Anzeige ohne vorheriges Aufforderungsverfahren dann verhalten ist, wenn - wie es in concreto der Fall war - der Sache nach ein Aufforderungsverfahren nicht in Betracht kommt oder nach den Erfahrungen ein solches Verfahren keine Aussicht auf Erfolg hätte, und daß sie auch dann geboten ist, wenn das Verschulden nicht geringfügig ist oder die Folgen der Übertretung nicht unbedeutend sind. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen kann durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts im Zuge der Kontrolle des anschließenden Strafverfahrens überprüft werden. Angesichts dessen hat der Verfassungsgerichtshof keine Bedenken ob der Bestimmtheit der angewendeten Regelung des ArbeitsinspektionsG.

Das Regelungssystem des §9 ff ArbeitsinspektionsG widerspricht nicht dem Gebot des Art11 Abs2 B-VG.

Der Verfassungsgerichtshof hat keine Bedenken dagegen, daß den Arbeitsinspektoraten als Organen der öffentlichen Aufsicht Anzeigepflichten übertragen sind und Verfahren, die aufgrund solcher Anzeigen des Arbeitsinspektorates eingeleitet werden, in Abweichung von dem das Verwaltungsstrafverfahren im allgemeinen beherrschenden Inquisitionsprinzip derart ausgestaltet sind, daß sie auch Elemente des formellen Anklageprinzips enthalten. Denn dies hängt mit den besonderen Aufgaben, die den Arbeitsinspektoraten im Interesse der Wahrnehmung des gesetzlichen Schutzes der Arbeitnehmer übertragen sind, notwendig zusammen. Es liegt im rechtspolitischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, eigene Staatsorgane zur Wahrnehmung derartiger Aufgaben einzurichten. Will er solchen Staatsorganen Überwachungs- und Beobachtungsaufgaben übertragen und solche Aufgaben im Interesse der Effektivität bei eben diesen Organen konzentrieren, die Erlassung von Bescheiden aber den Behörden der allgemeinen staatlichen Verwaltung belassen, so ist es geradezu unerläßlich, in solchen Fällen das das VStG beherrschende Inquisitionsprinzip (§25 Abs1 VStG) insoweit zu durchbrechen. Dann aber ist es auch nicht zu beanstanden, daß dem anzeigenden Arbeitsinspektorat aufgetragen ist, mit der Anzeige ein ihm als gerechtfertigt erscheinendes Strafausmaß zu beantragen (§9 Abs4 ArbeitsinspektionsG), zumal dieser Antrag keinerlei bindende Wirkung entfaltet.

Die Blankettstrafnorm des §28 Abs1 ArbeitszeitG idF vor BGBl 446/1994 verweist - verfassungsrechtlich zulässigerweise (vgl. VfSlg. 12.947/1991) - auf die materiellen Verhaltenspflichten gemäß dem ArbeitszeitG. Ungeachtet der Tatsache, daß sich die explizit formulierten Verhaltenspflichten des ArbeitszeitG, die im vorliegenden Fall von Bedeutung sind, an den Arbeitnehmer richten - er hat gemäß §17 ein Fahrtenbuch zu führen und nur seine Arbeitszeit bzw. Einsatzzeit ist gemäß §§14 und 16 begrenzt - hat der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung erkannt, daß damit auch Pflichten des Arbeitgebers normiert sind (s VwSlg 11.177 A/1983).

Im Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot der Verfassung, das für (Verwaltungs)Strafbestimmungen eine weitgehende Umschreibung des Tatbildes im Gesetz verlangt, geht es nicht an, vom Arbeitgeber zu verlangen, daß er bestimmte wirksame Vorkehrungen - die über die Vermeidung von Anreizen in der Art der Berechnung der Entlohnung und über die Erstellung von Fahraufträgen mit genauer Routeneinteilung unter exakter Festlegung der Stehzeiten, Ruhezeiten und Fahrtzeiten und deren effektive Kontrolle über ein Fahrtenbuch hinausgehen müssen - treffe und ihm dafür auch noch die Beweislast aufzuerlegen.

Nichts zwingt aber zum einen dazu, die angewendeten Vorschriften des ArbeitszeitG in solch extensiver Interpretation zu verstehen, zum anderen ist davon auszugehen, daß auch bei Ungehorsamsdelikten Verdächtige nicht ihre Unschuld nachzuweisen haben: Vielmehr hat die Behörde die Verwirklichung des objektiven Tatbestandes durch den Beschuldigten nachzuweisen und bei Vorliegen von Anhaltspunkten, die an seinem Verschulden Zweifel lassen, auch die Verschuldensfrage von Amts wegen zu klären (VfGH 20.06.94, B1908/93 ua.).

Die belangte Behörde hat ihre Bescheide darauf gestützt, daß dem Lenker die Verpflichtung zur Führung des Fahrtenbuches vom Arbeitgeber nicht klargemacht wurde und daß der Arbeitgeber seine Planungspflichten nicht ausreichend erfüllt habe; dafür sei Voraussetzung, daß die Fahrt ordnungsgemäß disponiert werde, dh. unter Berücksichtigung der Streckenführung, des Bestimmungsortes und der Be- und Entladezeiten die Einhaltung von Lenk-, Einsatz- und Ruhezeiten möglich sei.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Determinierungsgebot, Arbeitnehmerschutz, Arbeitsinspektion, Kompetenz Bund - Länder, Verwaltungsstrafrecht, Anklageprinzip, Blankettstrafnorm, Inquisitionsprinzip, Schuld (Verwaltungsstrafrecht), Ungehorsamsdelikt, Arbeitszeit, Bedarfskompetenz, Verwaltungsorganisation

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1995:B2343.1994

Dokumentnummer

JFR_10049383_94B02343_2_01
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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