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20 Privatrecht allgemeinNorm
B-VG Art7 Abs1 / GesetzLeitsatz
Zulässigkeit der Anträge auf Aufhebung der Regelung der Zuerkennung des Sorgerechts für das eheliche Kind an einen Elternteil allein nach Auflösung der Ehe im Kindschaftsrecht; keine Rechtskraft der Vorentscheidung aufgrund neuer Bedenken und Änderung der Rechtslage; Abweisung der Anträge; kein Abgehen von Vorjudikatur; sachliche Rechtfertigung der angefochtenen Bestimmung durch Bedachtnahme auf das Kindeswohl und Verhältnismäßigkeit des Eingriffs; einvernehmliches Vorgehen der Eltern nicht verhindert oder erschwert; keine Verletzung des Grundsatzes der Gleichheit (der Rechte und Pflichten) von Mann und Frau in den familienrechtlichen BeziehungenRechtssatz
Zulässigkeit der Anträge auf Aufhebung des Wortes "allein" in §177 Abs1 ABGB.
In dem mit dem Erkenntnis VfSlg 12103/1989 abgeschlossenen Gesetzesprüfungsverfahren hatte der Verfassungsgerichtshof ausschließlich zu prüfen, ob §177 Abs1 ABGB aus den vom Obersten Gerichtshof geltend gemachten Gründen wegen Widerspruches zu Art8 EMRK mit Verfassungswidrigkeit belastet ist. Die Rechtskraft dieses Erkenntnisses steht der Fällung einer Sachentscheidung über den Antrag des Landesgerichtes Salzburg im Umfang seiner Zulässigkeit auch insoweit nicht entgegen, als darin verfassungsrechtliche Bedenken aus der Sicht des Art8 EMRK vorgetragen werden. Dies ist schon mit Rücksicht darauf der Fall, daß §177 ABGB nach der Fällung des Erkenntnisses novelliert wurde (durch ArtI Z20 KindRÄG). Die Rechtskraft des in einem Verfahren nach Art140 B-VG gefällten Erkenntnisses setzt nämlich (nicht nur Identität der Bedenken, sondern auch) Identität der Norm voraus (vgl etwa VfSlg 11646/1988).
Abweisung der Anträge auf Aufhebung des Wortes "allein" in §177 Abs1 ABGB idF KindRÄG.
Kein Abgehen von der Vorjudikatur (VfSlg 12103/1989) trotz Änderung der Rechtslage durch das KindRÄG.
§177 Abs1 ABGB, der für den Fall der Scheidung, Aufhebung oder Nichtigerklärung der Ehe sowie für den Fall der nicht bloß vorübergehenden Trennung der Eltern eines minderjährigen ehelichen Kindes die Möglichkeit gibt, das Sorgerecht (seit dem Inkrafttreten des KindRÄG: die "Obsorge") für das Kind durch eine (der gerichtlichen Genehmigung bedürfenden) Vereinbarung zu regeln, schließt es aus, in einer derartigen Vereinbarung vorzusehen, daß die aus den familienrechtlichen Beziehungen zwischen Eltern und minderjährigen Kindern erfließenden rein persönlichen Rechte und Pflichten beiden Elternteilen zukommen.
Keine Änderung durch §177 Abs3 ABGB.
Die Normierung des Kriteriums des Kindeswohles in §177 Abs1 zweiter Satz ABGB bedeutet für das Gericht die Verpflichtung, dieses beim Vollzug des Gesetzes zu beachten, nicht jedoch die Ermächtigung, sich über das Gesetz hinwegzusetzen.
§177 Abs1 ABGB trägt - auch infolge seines inhaltlichen Zusammenhanges mit anderen Rechtsvorschriften - dem Gebot der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs iSd Art8 Abs2 EMRK zum einen insofern Rechnung, als danach der Eingriff in die Rechtssphäre des nicht mehr mit der Obsorge betrauten Elternteiles auf ein tunlichst geringes Maß beschränkt ist.
Da im übrigen das Gericht bei Zuweisung der Obsorge an bloß einen Elternteil nach §177 Abs2 ABGB dessen Befugnisse unter den besonderen Voraussetzungen des §176 Abs1 ABGB einschränken kann (Hinweis auf EFSlg 38390), muß auch die gerichtliche Genehmigung einer Vereinbarung nach §177 Abs1 ABGB als zulässig angesehen werden, die zwar die Obsorge bloß einem Elternteil zuweist, gleichzeitig aber wegen Vorliegens besonderer Umstände gebotene Beschränkungen in der Ausübung dieser Befugnisse vorwegnimmt, die auch das Gericht bei einer Entscheidung nach §177 Abs2 ABGB zum Wohl des Kindes vorsehen könnte.
Das Gebot der Übertragung der Obsorge an bloß einen Elternteil verwehrt es den Eltern nicht, die in §178 ABGB vorgesehenen - das Besuchsrecht und die Anhörungsrechte betreffenden - Mindestrechte in einer Vereinbarung zu erweitern.
Die (selbst ehrlich gemeinte) Absicht der Scheidungswilligen zur gemeinsamen Ausübung der Obsorge über ihre Kinder auch nach der Scheidung wird oft unrealistisch sein.
Der Gesetzgeber hat mit der bekämpften Regelung, nach der Entscheidungen betreffend ein Kind aus geschiedener (oder sonst aufgelöster) Ehe (oder dessen Eltern dauernd getrennt leben) von bloß einem Elternteil - und daher sehr rasch - getroffen werden können, die aber hiebei das Einvernehmen mit dem anderen Elternteil weder ausschließt noch erschwert, ein zur Gewährleistung des Wohles des Kindes geeignetes Mittel gewählt. Der durch diese Regelung bewirkte Eingriff in das Grundrecht des anderen Elternteiles ist, da selbst bei Fehlen eines Einvernehmens zwischen den Elternteilen durch eine Reihe dem anderen Elternteil gesetzlich eingeräumter Mitwirkungsmöglichkeiten stark gemildert, nicht unverhältnismäßig.
Weder die Novellierung des §177 ABGB durch das KindRÄG noch das Vorbringen des Landesgerichtes Salzburg erfordern eine Änderung der im Erkenntnis VfSlg 12103/1989 aus der Sicht des Art8 EMRK vorgenommenen verfassungsrechtlichen Beurteilung des §177 Abs1
ABGB.
Die Verschiedenheit der Regelungen in den dem Europarat angehörenden Staaten ist ein Ausfluß des dem Gesetzgeber zukommenden Gestaltungsspielraumes, nicht aber ein Indiz für das Fehlen eines die angegriffene Regelung iS des Art8 EMRK rechtfertigenden "dringenden sozialen Bedürfnisses". Der Vorwurf, der Gesetzgeber ermögliche - rechtlich betrachtet - kein einvernehmliches Vorgehen der Eltern im Falle der Auflösung der Ehe (also insbesondere nach der Scheidung), besteht insofern nicht zu Recht, als der Gesetzgeber in Fällen dieser Art ein einvernehmliches Vorgehen weder verhindert noch erschwert, mit seiner Regelung vielmehr nur und erst dann eingreift, wenn zwischen den Eltern Einvernehmen nicht (mehr) besteht.
Ebenso wie Art8 EMRK richtet sich der Gleichheitsgrundsatz (Art7 B-VG, Art2 StGG) auch an den Gesetzgeber (VfSlg 13327/1993). Er setzt ihm insofern inhaltliche Schranken, als er verbietet, sachlich nicht begründbare Regelungen zu treffen (vgl zB VfSlg 8457/1978, 10064/1984, 10084/1984). Innerhalb dieser Schranken ist es dem Gesetzgeber von Verfassungs wegen durch den Gleichheitsgrundsatz nicht verwehrt, seine politischen Zielvorstellungen auf die ihm geeignet erscheinende Art zu verfolgen (siehe etwa VfSlg 7864/1976, 7996/1977). Ob eine Regelung zweckmäßig ist oder gar, ob mit ihr der optimale Weg zur Zielerreichung beschritten wird, sind Fragen, die nicht vom Verfassungsgerichtshof unter dem Blickwinkel des Gleichheitsgebotes zu beurteilen sind (vgl VfSlg 6541/1971, 7885/1976, 11369/1987). Es können auch mehrere, inhaltlich voneinander abweichende Bestimmungen gleichheitsgemäß sein (VfSlg 9217/1981). Ein Gesetz ist auch nicht schon dann gleichheitswidrig, wenn sein Ergebnis nicht in allen Fällen als befriedigend angesehen wird (VfSlg 10455/1985).
Die in VfSlg 12103/1989 dargelegten Gründe, die die angegriffene Regelung als mit Art8 EMRK im Einklang stehend erscheinen lassen, bilden auch aus der Sicht des Gleichheitsgrundsatzes eine sachliche Rechtfertigung für die mit dieser Regelung getroffene Differenzierung zwischen dem Elternteil, dem nach Auflösung der Ehe die Obsorge über das Kind zukommt, und dem anderen Elternteil, aber auch - was von den antragstellenden Gerichten nicht releviert wird - zwischen dem aus einer aufgelösten Ehe stammenden Kind und dem Kind, dessen Eltern in aufrechter Ehe leben.
Dem Gesetzgeber kann aus der Sicht des Gleichheitssatzes nicht entgegengetreten werden, wenn er die während des Bestandes der Ehe im Regelfall - und verfassungsrechtlich unbedenklich - gesetzlich vorgesehene gemeinsame Obsorge der Eltern auch im Fall der bloß faktischen dauernden Trennung der Eltern rechtlich so lange fortbestehen läßt, bis ein Elternteil bei Gericht den Antrag auf Zuweisung der Obsorge an ihn allein stellt. Wenn der Gesetzgeber für den Fall, daß Einvernehmen nicht mehr besteht (oder weil infolge faktischer dauernder Trennung der Eltern trotz fortbestehender Ehe der andere Elternteil für ein gemeinsames Vorgehen nicht rechtzeitig erreicht werden kann), die Zuweisung der Obsorge an einen Elternteil allein vorsieht, ist dies aus der Sicht des Gleichheitssatzes unbedenklich.
Die den Art8 EMRK unberührt lassende, insbesondere dessen Anwendungsbereich nicht einschränkende Norm des Art5 7. ZP EMRK (so EGMR 22.02.94, Burghartz, 49/1992/394/472, ÖJZ 1994, S 559 ff) verankert den Grundsatz der Gleichheit (der Rechte und Pflichten) von Mann und Frau in den familienrechtlichen Beziehungen.
Diese Verfassungsnorm gilt ungeachtet des Wortlautes ihrer deutschen Übersetzung ("... bei Auflösung der Ehe.") auch für den Zeitraum nach Auflösung der Ehe.
Indem sie in den von ihr erfaßten Beziehungen Differenzierungen nach dem Geschlecht verbietet, schließt sie Regelungen nicht aus, die nach Auflösung der Ehe den früheren Ehegatten in bezug auf die aus der Ehe hervorgegangenen Kinder unterschiedliche Rechtspositionen zuweisen, sofern diese nur nicht an das Geschlecht anknüpfen.
Art5 des 7. ZP EMRK erfordert somit nicht, nach Auflösung der Ehe die Obsorge für minderjährige eheliche Kinder beiden Elternteilen gemeinsam zuzuweisen.
Der Verfassungsgerichtshof hatte in diesen Verfahren nicht zu beurteilen, ob die vom Gesetzgeber getroffene Lösung die zweckmäßigste oder beste ist, wie dies teilweise im Schrifttum bezweifelt wird.
Entscheidungstexte
Schlagworte
Zivilrecht, Personenrecht, Kindschaftsrecht, VfGH / Bedenken, VfGH / Sachentscheidung Wirkung, Rechtskraft, EU-Recht, Privat- und Familienleben, VfGH / Prüfungsmaßstab, Gleichheit Frau-MannEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1995:G154.1993Dokumentnummer
JFR_10048990_93G00154_01