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97 VergabewesenNorm
B-VG Art7 Abs1 / VerwaltungsaktLeitsatz
Keine Verletzung in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten durch einen Feststellungsbescheid des Bundesvergabeamtes hinsichtlich behaupteter Rechtswidrigkeiten eines Vergabeverfahrens nach dem BundesvergabeG; Qualifikation des Bundesvergabeamtes als vorlagepflichtiges Gericht iSd EG-Vertrages; keine Verletzung des Rechts auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter durch die Nichteinholung einer Vorabentscheidung des EuGH hinsichtlich der Frage der Richtlinienkonformität der Regelungen des BundesvergabeG über die Zulässigkeit und Behandlung von Alternativangeboten; keine Zweifel an der Richtlinienkonformität dieser Regelungen; ausreichende Bestimmtheit der entsprechenden Bestimmungen; richtlinienkonforme Organisation der nachprüfenden Kontrolle der Vergabeentscheidung durch das BundesvergabeamtRechtssatz
Das Bundesvergabeamt ist eine kollegiale Verwaltungsbehörde im Sinne des Art133 Z4 B-VG, deren Bescheide gemäß §78 Abs1 letzter Satz BundesvergabeG nicht der Aufhebung oder Abänderung im Verwaltungsweg unterliegen. Der Instanzenzug ist daher erschöpft.
Keine Bedenken gegen §22 Abs6 und §29 Abs4 BundesvergabeG.
Weder sind diese Vorschriften derart unbestimmt, daß sie einem gesetzmäßigen Vollzug nicht zugänglich wären, noch trifft der Vorwurf der Beschwerde zu, daß diese Bestimmungen durch ihre Offenheit "zu mißbräuchlichem Vollzug geradezu einladen". Insbesondere wird durch den zweiten Satz des §29 Abs4 BundesvergabeG klargestellt, daß sich ein Alternativangebot auf die Gesamtleistung oder aber - im Rahmen eines auf die ausgeschriebene Gesamtleistung bezogenen Angebotes (§29 Abs3 leg cit) - bloß auf Teile der Leistungen beziehen kann. Es ist vom Gesetz auch nicht ausgeschlossen, daß ein Bieter mehrere Alternativen anbietet, die sich auf verschiedene Teile der Leistungen beziehen und die für die Bestbieterermittlung jeweils in Verbindung mit dem Hauptangebot bzw mit anderen Alternativen herangezogen werden.
Das Bundesvergabeamt als kollegiale Verwaltungsbehörde im Sinne der Art20 Abs2 und 133 Z4 B-VG ist als ein Gericht im Sinne des Art177 Abs3 EG-Vertrag anzusehen.
Das Bundesvergabeamt ist angesichts der Weisungsfreiheit seiner Mitglieder und der Garantie ihrer Unabhängigkeit nicht nur ein Tribunal im Sinne des Art6 EMRK, sondern auch ein Gericht im Sinne des Art177 EG-Vertrag: Es handelt sich nämlich um einen staatlichen Spruchkörper, der auf gesetzlicher Grundlage ständig damit betraut ist, Rechtssachen unabhängig zu entscheiden (vgl EuGH 30.06.66, Rs 61/65, Vaassen-Göbbels, Slg 1966, 583 ff), um eine unabhängige, nicht weisungsgebundene Einrichtung, die im Einklang mit dem Recht Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden hat, für die es nach dem Gesetz zuständig ist (so EuGH 11.06.87, Rs 14/86, Pretore di Salo, Slg 1987, 2545 ff; vgl zum Gerichtsbegriff des Art177 EG-Vertrag etwa Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Art177 EG-Vertrag2, 1995, 84 ff, sowie etwa auch Borchardt in: Lenz, EG-Vertrag Kommentar, 1994, Rz 17 zu Art177, und im konkreten Zusammenhang des Bundesvergabeamtes Thienel, Vergabekontrollkommission und Vergabeamt nach dem BundesvergabeG, ÖZW 1993, 65 ff, 75 ff).
Da Entscheidungen des Bundesvergabeamtes gemäß §78 Abs1 BundesvergabeG weder der Aufhebung oder Abänderung im Verwaltungsweg unterliegen noch gegen sie eine Verwaltungsgerichtshofbeschwerde zulässig ist, ist das Bundesvergabeamt als vorlagepflichtiges Gericht im Sinne des Art177 Abs3 EG-Vertrag zu qualifizieren.
Zufolge der Judikatur des Reichsgerichtes ist unter einem gesetzlichen Richter "nicht bloß ein Gericht, sondern jede Staatsbehörde zu verstehen, welche von irgendeinem Gesetz oder einer rechtsgültigen Verordnung mit der Entscheidung einer Angelegenheit betraut ist" (RG Nr 1842/1911; s auch VfSlg 2536/1953).
In diesem Sinn aber ist der EuGH "gesetzlicher Richter". Zwar bleibt das nationale Organ gesetzlicher Richter in dem Sinn, daß dieses (und nicht der EuGH) eine anhängige Sache zu entscheiden und das Recht - einschließlich des Gemeinschaftsrechtes - auf den Einzelfall anzuwenden hat, es ist aber an ein Vorabentscheidungsurteil des EuGH gebunden (Borchardt, aaO, Rz 37 f), dem die Auslegung gemeinschaftsrechtlicher Rechtsvorschriften vorbehalten ist. In diesem "dualistischen Rechtsschutzsystem" des Gemeinschaftsrechts (Schwarze, Grundzüge und neuere Entwicklungen des Rechtsschutzes im Recht der Europäischen Gemeinschaft, NJW 1992, 1065 ff, 1071) wirkt also der EuGH in spezifischer Form an der innerstaatlichen Entscheidung mit.
Würde ein innerstaatliches Organ entgegen der Anordnung in Art177 Abs3 EG-Vertrag eine vorlagepflichtige Frage der Interpretation des Gemeinschaftsrechtes dem EuGH nicht zur Vorabentscheidung vorlegen, so verletzte dieses staatliche Organ die gesetzliche Zuständigkeitsordnung, zu der eben auch Art177 EG-Vertrag zählt und entzöge den Parteien des bei ihm anhängigen Verfahrens insofern den gesetzlichen Richter, als eine dem EuGH zur Entscheidung vorbehaltene Frage nicht durch diesen gelöst werden könnte.
Einen solchen Fehler hätte der Verfassungsgerichtshof aufzugreifen, da dadurch die gesetzlich begründete Zuständigkeitsverteilung verletzt würde, was nach der verfassungsgerichtlichen Judikatur eine Verletzung des Art83 Abs2 B-VG bewirkte.
Nach der Rechtsprechung des EuGH (06.10.82, CILFIT, Rs 283/81, Slg 1982, 3415 ff) hat ein vorlagepflichtiges Gericht im Sinne des Art177 Abs3 EG-Vertrag im Falle einer klärungsbedürftigen Auslegungsfrage seiner Vorlagepflicht nachzukommen, wenn sich in einem bei ihm anhängigen Verfahren eine Frage des Gemeinschaftsrechtes stellt, es sei denn, das Gericht hat festgestellt, "daß die gestellte Frage nicht entscheidungserheblich ist, daß die betreffende gemeinschaftsrechtliche Bestimmung bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof war oder daß die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts derart offenkundig ist, daß für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt".
Im Sinne der damit zum Ausdruck kommenden "acte clair"-Doktrin könnte einem vorlagepflichtigen Gericht (im Sinne des Art177 Abs3 EG-Vertrag) die Nichtvorlage nur dann zum Vorwurf gemacht werden, wenn es begründete Zweifel daran haben müßte, daß die von ihm für zutreffend befundene Interpretation des nationalen Rechtes mit den Anforderungen des in Frage kommenden Gemeinschaftsrechtes in Widerspruch geraten könnte.
Kein Widerspruch des §22 Abs6 und §29 Abs4 BundesvergabeG über die Zulässigkeit und die Behandlung von Alternativangeboten zu Art19 der Richtlinie des Rates vom 14.06.93, 93/37/EWG, zur Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, ABl L 199/1993, 54 ff, im folgenden: BKR.
Es kann kein vernünftiger Zweifel daran bestehen, daß die Vorschriften des BundesvergabeG über die Zulässigkeit von Alternativangeboten diesem Rahmen des Gemeinschaftsrechtes entsprechen: Als Mindestanforderung wird in unbedenklicher Weise die qualitative Gleichwertigkeit der alternativ angebotenen Lösung verlangt und hinsichtlich der Art und Weise, in der Alternativangebote eingereicht werden dürfen, enthalten §22 Abs6 und §29 Abs4 BundesvergabeG entsprechende Regelungen, wobei im Hinblick auf die im zugrundeliegenden Kontrollverfahren strittigen Fragen insbesondere von Bedeutung ist, daß sich nach der zuletzt zitierten Bestimmung Alternativangebote dann, wenn sie nicht ausnahmsweise für unzulässig erklärt werden, auf die Gesamtleistung oder auf Teile der Leistung beziehen können.
Das Bundesvergabeamt ging bei Anwendung dieser Vorschriften ersichtlich davon aus, daß der Auftraggeber im Falle des Vorliegens eines Hauptangebotes und mehrerer Alternativen für die Bestbieterermittlung eines oder mehrere der angebotenen Alternativen mit Teilen des Hauptangebotes kombinieren dürfte (während es ihm nicht erlaubt sei, ein Alternativangebot quasi zu zerlegen und einzelne Teile einer Alternative mit dem Hauptangebot zu kombinieren). Eine solche Interpretation kommt offensichtlich nicht in Widerspruch zu Art19 BKR.
Der Verfassungsgerichtshof hat unter dem Blickwinkel des Beschwerdefalles auch keine Bedenken ob der Richtlinienkonformität der Organisation der nachprüfenden Kontrolle der Vergabeentscheidung durch das Bundesvergabeamt.
Das Bundesvergabeamt war daher nicht gehalten, eine Vorabentscheidung des EuGH einzuholen. Die behauptete Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter hat sohin nicht stattgefunden.
Keine Verletzung im Gleichheitsrecht.
Schlagworte
VfGH / Instanzenzugserschöpfung, Vergabewesen, Determinierungsgebot, EU-Recht, Gericht, EU-Recht Richtlinie, TribunalEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1995:B2300.1995Dokumentnummer
JFR_10048789_95B02300_2_01