RS Vfgh 1996/6/10 B696/96

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Veröffentlicht am 10.06.1996
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Index

95 Technik
95/06 Ziviltechniker

Norm

B-VG Art18 Abs1
StGG Art17
EMRK Art6 Abs1 / Tribunal
EMRK Art8
EMRK Art10
Standesregeln der Ziviltechniker Pkt 6.1., Pkt 6.2.
ZiviltechnikerkammerG 1993 §55 Abs1

Leitsatz

Keine Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte durch die Verhängung einer Disziplinarstrafe über einen Ziviltechniker wegen unsachlicher und herabsetzender Kritik an einem Kollegen; ausreichende Determinierung der disziplinarrechtlichen Regelungen über Berufs- und Standespflichten sowie des Verbots unsachlicher und herabsetzender Kritik; keine Verletzung des Privat- und Familienlebens, der Wissenschafts- und der Meinungsäußerungsfreiheit

Rechtssatz

Ausreichende Determinierung des §55 Abs1 ZiviltechnikerkammerG 1993 und des Pkt. 6.2. der Standesregeln.

Der Begriff der Berufs- und Standespflichten hat einen Inhalt, der aus den allgemeinen gesellschaftlichen Anschauungen und den gefestigten Gewohnheiten des Berufsstandes festgestellt werden kann (vgl. VfSlg. 11.007/1986, 7494/1975 und die dort zitierte Vorjudikatur).

Sowohl der Begriff der "unsachlichen Kritik" als auch der der "herabsetzenden Kritik" in Pkt. 6.2. der Standesregeln der Ziviltechniker sind einer objektiven Auslegung zugänglich.

Der angefochtene Bescheid greift weder in das Recht auf Achtung des Privatlebens des Beschwerdeführers noch in sein Recht auf Achtung des Briefverkehrs ein. Denn die Disziplinarbehörde hat einen nicht mehr dem Privatleben des Beschwerdeführers zugehörigen, sondern bereits in die Öffentlichkeit gelangten Brief zum Gegenstand eines Disziplinarverfahrens gemacht. Dazu kommt im vorliegenden Fall, daß der Beschwerdeführer nach den Erfahrungen des täglichen Lebens geradezu erwarten mußte, daß eine an einen Gemeinderat einer politischen Fraktion gerichtete Expertise von diesem in der öffentlichen tagespolitischen Auseinandersetzung verwendet wird.

Die Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre - ein Sonderfall des Rechtes der Freiheit der Meinungsäußerung - umfaßt das Recht der unbehinderten wissenschaftlichen Forschung und das Recht der unbehinderten Lehre der Wissenschaft. Jedermann, der wissenschaftlich forscht oder lehrt, darf hiebei vom Staat keinen spezifischen, intentional auf die Einengung dieser Freiheit gerichteten Beschränkungen unterworfen werden. Auch die nicht durch einen ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt eingeschränkten ("absoluten") Grundrechte sind nur innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze gewährleistet ("immanente Grundrechtsschranken"). Ein durch Bescheid vorgenommener Eingriff in die Freiheit der Wissenschaft und Lehre, der die wissenschaftliche Tätigkeit verhindert oder auch nur beschränkt, ist nur dann zulässig, wenn er zum Schutz eines anderen Rechtsgutes erforderlich und zweckmäßig ist (vgl. VfSlg. 13.978/1994, s. auch VfSlg. 11.737/1988).

Keine Verletzung der Wissenschaftsfreiheit und der Meinungsäußerungsfreiheit.

Die Möglichkeit zur sachlichen und in der gebotenen Form geäußerten Kritik bildet ein unverzichtbares, aus der Meinungsäußerungsfreiheit nach Art10 EMRK erfließendes, jedermann zustehendes Recht in einem demokratischen Gemeinwesen (VfSlg. 11996/1989). Eine derartige, den Umständen nach möglicherweise geradezu gebotene Kritik an der Tätigkeit und damit auch der Qualifikation eines Ziviltechnikers zu üben, ist jedermann verfassungsgesetzlich gewährleistet. Umsomehr muß sie aber dem Berufsgenossen eröffnet sein, weil vielfach nur dieser über das für eine tiefgreifende Kritik erforderliche Maß an Fachwissen verfügt. Weder der Grundsatz der Kollegialität, geschweige denn das "Ansehen oder die Würde des Standes" können daher einen Ziviltechniker vor einer sachlichen, in der gebotenen Form geäußerten Kritik durch einen anderen Standesangehörigen schützen. Sosehr es angesichts der Aufgaben und angesichts des besonderen Vertrauens, das Ziviltechniker in der Öffentlichkeit genießen, berechtigt ist, "eine unsachliche oder herabsetzende Kritik an anderen Ziviltechnikern und deren Leistung" für "unzulässig" zu erklären und disziplinarstrafrechtlich zu ahnden, (wie dies durch Punkt 6.2. der Standesregeln in Verbindung mit dem Disziplinarrecht geschehen ist), sowenig dürfen "die Grundsätze der Kollegialität" nach Punkt 6.1. der Standesregeln dahin verstanden werden, daß dadurch die sachliche, in der gebotenen Form vorgetragene Kritik eines Ziviltechnikers an der Tätigkeit eines Fachkollegen verhindert würde.

Der Verfassungsgerichtshof hat daher angesichts der dargestellten Rechts- und Verfassungslage keine Bedenken dagegen, daß die belangte Behörde die im Spruch des angefochtenen Bescheides zitierten Passagen im gegebenen Zusammenhang als unsachliche und herabsetzende Kritik verstanden hat und dieses Urteil insbesondere noch durch den Vergleich der kritisierten Arbeit mit einer "Wetterprophezeiung" als erhärtet ansieht.

Tribunalqualität der Berufungskommission der Architekten und Ingenieurkonsulenten.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Ziviltechniker, Disziplinarrecht Ziviltechniker, Determinierungsgebot, Privat- und Familienleben, Wissenschaftsfreiheit, Meinungsäußerungsfreiheit, Tribunal

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1996:B696.1996

Dokumentnummer

JFR_10039390_96B00696_01
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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