Index
90 Straßenverkehrsrecht, KraftfahrrechtNorm
B-VG Art140 Abs1 / PräjudizialitätLeitsatz
Verfassungswidrigkeit des ausdrücklichen Ausschlusses einer gegenüber strafgerichtlicher Verfolgung nur subsidiären verwaltungsstrafrechtlichen Verantwortung wegen Lenken eines Kraftfahrzeuges in einem durch Alkohol beeinträchtigten Zustand gemäß der StVO 1960 infolge eines Verstoßes gegen das Doppelbestrafungsverbot des Art4 des 7. ZP EMRK; Ungültigkeit des Vorbehalts der Republik Österreich zum Doppelbestrafungsverbot mangels erschöpfender Beschreibung der mit Art4 nicht im Einklang stehenden Gesetze; kein Widerspruch des lediglich die Strafbemessung im Sinne des Kumulationsprinzips regelnden und die verwaltungsstrafverfahrensrechtliche Regel bei Zusammentreffen strafbarer Handlungen aufstellenden Bestimmungen des VStG gegen das Verbot der DoppelbestrafungRechtssatz
Zulässigkeit des Antrags auf (teilweise) Aufhebung des §22 und §30 VStG.
Die Berufungswerber in den bei den antragstellenden unabhängigen Verwaltungssenaten anhängigen Verfahren sowie die Beschwerdeführer der Anlaßfälle beim antragstellenden Verwaltungsgerichtshof wurden in den jeweiligen Anlaßfällen nicht nur gemäß §99 Abs1 lita iVm §5 Abs1 StVO 1960 verwaltungsbehördlich bestraft, sondern auch wegen verschiedener Delikte nach dem StGB strafgerichtlich belangt, weil sie ihr Fahrzeug in einem durch Alkohol beeinträchtigten Zustand gelenkt hatten. Es kann daher den antragstellenden Rechtsschutzorganen nicht entgegengetreten werden, wenn sie davon ausgingen, daß §22 Abs1 VStG anzuwenden ist, wonach die Strafen nebeneinander zu verhängen sind, wenn eine Tat unter mehrere einander nicht ausschließende Strafdrohungen fällt, und §22 Abs2 VStG schon deswegen heranzuziehen ist, weil diese kurz als "Kumulationsprinzip" bezeichnete Vorschrift des Abs1 gemäß Abs2 auch bei einem Zusammentreffen von Verwaltungsübertretungen mit den von einem Gericht zu ahndenden strafbaren Handlungen gilt. Desgleichen ist es zumindest denkmöglich, daß in allen Anlaßfällen die verwaltungsstrafverfahrensrechtliche Vorschrift des §30 VStG über das "Zusammentreffen verschiedener strafbarer Handlungen" heranzuziehen ist.
Zulässig ist auch die Anfechtung der Worte "Alkohol oder" in §99 Abs1 lita StVO 1960, weil damit ein Tatbestandselement, das in allen Anlaßfällen zum Tragen kommt, bezeichnet wird, sowie die Anfechtung des §99 Abs6 litc StVO 1960. Dadurch, daß die letztgenannte Vorschrift die im Eingangssatz angeordnete Subsidiarität einer verwaltungsbehördlichen Bestrafung gegenüber der in die Zuständigkeit der Gerichte fallenden Strafverfolgung auf Straftaten gemäß den Abs2, 3 oder 4 des §99 StVO 1960 idF vor der Novelle BGBl. 518/1994 bzw. gemäß den Abs2, 2a, 2b, 3 oder 4 des §99 StVO 1960 idF der Novelle BGBl. 518/1994 beschränkt, wird darin gleichzeitig zum Ausdruck gebracht, daß die Verwaltungsübertretung nach §99 Abs1 lita StVO 1960 auch dann als Verwaltungsübertretung geahndet werden soll, wenn die betreffende Tat (das Lenken oder die Inbetriebnahme eines Fahrzeuges in einem durch Alkohol beeinträchtigten Zustand) den Tatbestand "einer in die Zuständigkeit der Gerichte fallenden strafbaren Handlung verwirklicht". Die Bestrafung der Berufungswerber bzw. Beschwerdeführer in den Anlaßfällen beruht insoweit auch auf der Anwendung des §99 Abs6 litc StVO 1960, sodaß für jene Rechtsschutzorgane auch diese Vorschrift präjudiziell ist.
Die Republik Österreich hat zum Doppelbestrafungsverbot des Art4 Abs1 des 7. ZP EMRK die als Vorbehalt gemäß Art64 EMRK zu verstehende "Erklärung" abgegeben, daß sich Art4 "nur auf Strafverfahren im Sinne der österreichischen Strafprozeßordnung" bezieht.
Der EGMR hat in seinem Urteil vom 23.10.95 (Z33/1994/480/562, Gradinger gegen Österreich) festgestellt, daß die "Erklärung" Österreichs deshalb nicht den Anforderungen des Art64 Abs2 EMRK entspricht, weil es an einer erschöpfenden Beschreibung der Gesetze fehlt, von denen gesagt werden soll, daß sie mit Art4 des 7. ZP EMRK nicht im Einklang stehen. Der EGMR hält sohin die besagte "Erklärung" Österreichs für ungültig.
Der Verfassungsgerichtshof sieht sich veranlaßt, dem EGMR in dessen Bewertung der "Erklärung" Österreichs zu Art4 des 7. ZP EMRK zu folgen. Die angegriffenen Bestimmungen des §22 und §30 VStG sowie §99 Abs1 lita und §99 Abs6 litc StVO 1960 können daher nicht als Gesetze angesehen werden, deren innerstaatliche Weitergeltung gemäß Art64 Abs1 EMRK völker- und verfassungsrechtlich vorbehalten sind, mögen sie auch mit Art4 des 7. ZP EMRK nicht übereinstimmen.
Die Vorschriften des §22 und §30 VStG widersprechen schon deswegen dem Verbot der Doppelbestrafung gemäß Art4 Abs1 des 7. ZP EMRK nicht, weil §22 VStG lediglich die Strafbemessung im Sinne des Kumulationsprinzips regelt, wenn jemand mehrere Verwaltungsübertretungen begangen hat, und weil §30 Abs1 VStG für diesen Fall die verwaltungsstrafverfahrensrechtliche Regel aufstellt, daß die strafbaren Handlungen unabhängig voneinander zu verfolgen sind.
Ob bei eintätigem Zusammentreffen mehrerer Delikte diese insgesamt zu verfolgen sind oder die Bestrafung nach einem Straftatbestand die Bestrafung nach einem anderen ausschließt, ist den gesetzlichen Regelungen der materiellen Strafbestimmungen zu entnehmen, nicht jedoch §22 und §30 Abs1 VStG. Diese setzen vielmehr die gesetzliche Anordnung miteinander konkurrierender und daher nebeneinander zu ahndender Straftatbestände schon voraus und ordnen als Konsequenz die kumulative Verfolgung sowie die kumulative Bestrafung der mehreren Straftaten an.
Selbst wenn aber der Gesetzgeber dadurch von einer echten Konkurrenz von Delikten ausgeht, daß er durch eine Tat mehrere Delikte verwirklicht ansieht (Idealkonkurrenz), widerspricht eine derartige Regelung an sich noch nicht dem Doppelbestrafungsverbot des Art4 Abs1 des 7. ZP EMRK.
Die verfassungsrechtliche Grenze, die Art4 Abs1 des 7. ZP EMRK einer Doppel- oder Mehrfachbestrafung zieht, kann nur darin liegen, daß eine Strafdrohung oder Strafverfolgung wegen einer strafbaren Handlung dann unzulässig ist, wenn sie bereits Gegenstand eines Strafverfahrens war; dies ist der Fall, wenn der herangezogene Deliktstypus den Unrechts- und Schuldgehalt eines Täterverhaltens vollständig erschöpft, sodaß ein weitergehendes Strafbedürfnis entfällt, weil das eine Delikt den Unrechtsgehalt des anderen Delikts in jeder Beziehung mitumfaßt. Strafverfolgungen bzw. Verurteilungen wegen mehrerer Delikte, die auf Straftatbeständen fußen, die einander wegen wechselseitiger Subsidiarität, Spezialität oder Konsumtion jedenfalls bei eintätigem Zusammentreffen ausschließen, bilden verfassungswidrige Doppelbestrafungen, wenn und weil dadurch ein- und dieselbe strafbare Handlung strafrechtlich mehrfach geahndet wird.
Die Wortfolge "in Abs2, 3 oder 4 bezeichnete" in §99 Abs6 litc StVO 1960 idF vor der 19. StVO-Novelle, BGBl. 518/1994, war verfassungswidrig.
Die Wortfolge "in Abs2, 2a, 2b, 3 oder 4 bezeichnete" in §99 Abs6 litc StVO 1960 idF der 19. StVO-Novelle, BGBl. Nr. 518/1994, wird als verfassungswidrig aufgehoben.
Eine gesetzliche Strafdrohung widerspricht dann dem Art4 des 7. ZP EMRK, wenn sie den wesentlichen Gesichtspunkt ("aspect") eines Straftatbestandes, der bereits Teil eines von den Strafgerichten zu ahndenden Straftatbestandes ist, neuerlich einer Beurteilung und Bestrafung durch die Verwaltungsbehörden unterwirft.
§99 Abs1 lita StVO 1960 ordnet die Bestrafung als Verwaltungsübertretung an, wenn jemand "in einem durch Alkohol ... beeinträchtigten Zustand ein Fahrzeug lenkt oder in Betrieb nimmt".
§99 Abs6 litc StVO 1960 läßt mangels ausdrücklicher Erwähnung dieser im Abs1 des §99 StVO 1960 geregelten Verwaltungsübertretung erkennen, daß die nach §99 Abs1 lita StVO 1960 bezeichnete Tat auch dann als Verwaltungsübertretung zu ahnden ist, wenn dadurch der "Tatbestand einer in die Zuständigkeit der Gerichte fallenden strafbaren Handlung verwirklicht" wird. Mit Rücksicht auf §81 Z2 StGB in seiner Auslegung durch die ständige Judikatur und die maßgebliche Literatur bildet das Lenken eines Kraftfahrzeuges in einem durch Alkohol beeinträchtigten Zustand auch in zahlreichen, vom Strafgericht zu ahndenden Deliktsfällen ein bedeutsames tatbestandliches Qualifikationskriterium und damit einen wesentlichen Gesichtspunkt im Sinne des zitierten Urteils des EGMR vm 23.10.95 (Gradinger gegen Österreich). Durch den ausdrücklichen Ausschluß einer gegenüber strafgerichtlicher Verfolgung nur subsidiären verwaltungsstrafrechtlichen Verantwortung nach §99 Abs1 lita StVO 1960 hat der Gesetzgeber im Ergebnis eine dem Art4 Abs1 des 7. ZP EMRK zuwiderlaufende und daher verfassungswidrige Doppelbestrafung angeordnet.
Die Ausdehnung der Anlaßfallwirkung auf alle zum Zeitpunkt des Beginns der verfassungsgerichtlichen Beratung beim Verwaltungsgerichtshof und bei den unabhängigen Verwaltungssenaten anhängigen Beschwerde- und Berufungsfälle erschien dem Verfassungsgerichtshof mit Rücksicht darauf als zweckmäßig, daß bei einer Vielzahl dieser Fälle aus verfahrensrechtlichen Gründen (noch) kein Prüfungsantrag gestellt werden konnte und einzelne Gesetzesprüfungsanträge des Verwaltungsgerichtshofes und der unabhängigen Verwaltungssenate nicht mehr in das vorliegende Gesetzesprüfungsverfahren einbezogen werden konnten. Eine weitere Erledigung der diesbezüglich gestellten Gesetzesprüfungsanträge erübrigt sich damit.
Entgegen der Anregung der Bundesregierung hat der Verfassungsgerichtshof davon Abstand genommen, eine Frist für das Außerkrafttreten der aufgehobenen gesetzlichen Bestimmungen gemäß Art140 Abs5 dritter und vierter Satz B-VG zu bestimmen. Dies schon deswegen, weil die in der Verletzung des Art4 Abs1 des 7. ZP EMRK gelegene Verfassungswidrigkeit schon aus Gründen der Vertragstreue möglichst rasch beseitigt werden soll (VfSlg 12649/1991).
(Quasianlaßfälle: B291/96, B2867/96, beide E v 11.12.96; Einstellung der Verfahren bezüglich weiterer Gesetzesprüfungsanträge bzw Zurückweisung der Anträge aufgrund der Ausdehnung der Anlaßfallwirkung bzw wegen entschiedener Sache: B v 11.12.96, G264/96 ua).
Entscheidungstexte
Schlagworte
VfGH / Präjudizialität, Kumulationsprinzip, Subsidiaritätsprinzip, Strafe, Verwaltungsstrafrecht, Doppelbestrafungsverbot, Zusammentreffen strafbarer Handlungen, Straßenpolizei, Alkoholisierung, VfGH / Anlaßverfahren, VfGH / Verfahren, VfGH / Aufhebung Wirkung, VfGH / Feststellung Wirkung, VfGH / FristsetzungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1996:G9.1996Dokumentnummer
JFR_10038795_96G00009_01