TE Vfgh Erkenntnis 2005/3/1 B1242/04

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Veröffentlicht am 01.03.2005
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Index

41 Innere Angelegenheiten
41/02 Staatsbürgerschaft, Paß- und Melderecht, Fremdenrecht

Norm

EMRK Art8 Abs2
FremdenG 1997 §10 Abs2 Z3, §34 Abs1, §37 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Privat- und Familienleben durch die Ausweisung einer Studentin wegen Gefährdung der öffentlichen Ordnung in Hinblick auf den fehlenden Studienerfolg aufgrund nicht ausreichender Deutschkenntnisse; verfehlte Interessenabwägung in Hinblick auf die familiären Bindungen der im Haushalt der Eltern lebenden Beschwerdeführerin

Spruch

Die Beschwerdeführerin ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihrer Rechtsvertreter die mit € 2.340,-- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstigem Zwang zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1.1. Die Beschwerdeführerin, eine türkische Staatsangehörige, beantragte am 5.2.2002 die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zweck des Studiums. Diese wurde ihr am 8.3.2002 erstmals erteilt und in weiterer Folge immer wieder verlängert, zuletzt bis 30.4.2004. Am 30.4.2004 stellte sie bei der Bezirkshauptmannschaft Kufstein einen Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis.

Diese teilte ihr mit Schreiben vom 12.5.2004 mit, dass beabsichtigt sei, ein Verfahren zur Aufenthaltsbeendigung durchzuführen. Die Beschwerdeführerin sei bei einer für die Zulassung zum beabsichtigten Studium erforderlichen Ergänzungsprüfung zweimal erfolglos geblieben, zum dritten und letztmöglichen Termin aber nicht mehr angetreten. Es stehe somit fest, dass sie die von ihr angestrebte Ausbildung vor allem mangels ausreichender Deutschkenntnisse nicht aufnehmen könne, weshalb der Erteilung eines weiteren Aufenthaltstitels Versagungsgründe entgegenstehen.

Die Beschwerdeführerin erstattete dazu eine Äußerung, in der sie mitteilt, dass sie inzwischen eine Tätigkeit als Au-Pair-Kraft mit einer Gastfamilie vereinbart habe. Sie stütze ihren Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis daher nunmehr auf ihre Tätigkeit als Au-Pair-Kraft.

1.2. Mit Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Kufstein vom 19.7.2004 wurde die Beschwerdeführerin gemäß §34 Abs1 Z2 Fremdengesetz 1997 (im Folgenden: FrG) ausgewiesen: Der Erteilung eines weiteren Aufenthaltstitels zum Zweck des Studiums stehe der Versagungsgrund des §10 Abs2 Z3 FrG - Gefährdung der öffentlichen Ordnung - entgegen. Die Änderung des Antrags hinsichtlich des Aufenthaltszwecks sei während des Verfahrens unzulässig (§14 Abs3 FrG). Überdies stehe dem Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zum Zweck des Au-Pair-Verhältnisses die Unzulässigkeit der Inlandsantragstellung entgegen.

1.3. Die gegen diesen Bescheid erhobene Berufung wies die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Tirol mit Bescheid vom 23.8.2004 ab: Die Beschwerdeführerin habe am 30.4.2004 die Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis zum Zweck der Ausbildung beantragt. Da sie jedoch ihr Studium an der Universität Innsbruck mit 30.4.2004 beendet habe, indem sie zu einer erforderlichen Ergänzungsprüfung mangels ausreichender Deutschkenntnisse nicht mehr angetreten sei, stehe der Erteilung einer weiteren Aufenthaltserlaubnis die öffentliche Ordnung entgehen. Eine "Zweckänderung" während des Verfahrens sei jedoch unzulässig.

Zur Zulässigkeit der Ausweisung im Hinblick auf §37 Abs2 FrG wird im bekämpften Bescheid Folgendes ausgeführt:

"Ihre privaten oder familiären Interessen am Verbleib im Bundesgebiet wiegen schwer (vgl. Ihren erlaubten Aufenthalt, Zweck:

Aufnahme eines ordentlichen Studiums an der Universität Innsbruck, seit 2002, das Scheitern dieses Ihres Vorhabens 2004 auf Grund mangelnder Deutschkenntnisse, und vgl. Ihre dementsprechende, geringe Integration und private Bindung; eine intensive familiäre Bindung haben Sie zu Ihren Eltern und Ihrer minderjährigen Schwester, die im Bundesgebiet gut integriert sind und mit denen Sie in Kirchbichl in einem gemeinsamen Haushalt leben; alle Ihre Verwandten lebten in Tirol und im angrenzenden Bayern; verringert wird das Gewicht Ihrer privat/familiären Interessen durch Ihre Volljährigkeit und den Umstand, dass Sie ledig und für niemanden sorgepflichtig sind) sie wiegen jedoch höchstens gleich schwer wie die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von einer Ausweisung, weshalb eine Ausweisung Ihrer Person auch im Grunde des §37 Abs2 FrG zulässig ist. Ein geordnetes Fremdenwesen hat einen großen öffentlichen Stellenwert, großes öffentliches Gewicht.

[…]

Dazu, dass in der Türkei keine Verwandten mehr leben, bei denen Sie wohnen könnten und dass Sie als Frau in der Türkei keine eigene Wohnung haben könnten bzw. bei einer alleinigen Rückkehr in die Türkei auf Grund Anordnung Ihres Vaters einen von diesem ausgesuchten Mann heiraten müssten, wird bemerkt, dass Österreich für die Sitten und Gebräuche anderswo bzw. in einem anderen Kulturkreis nicht verantwortlich ist, dass maßgeblich das in Österreich geführte Privat- und Familienleben ist und dass ein Ausweisungsbescheid nicht anordnet, wohin der Fremde auszureisen hat, allenfalls abgeschoben wird."

2. Gegen diesen Berufungsbescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde gemäß Art144 B-VG, in der die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art8 EMRK) sowie auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (BVG BGBl. 390/1973) behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des Bescheides beantragt wird.

3. Die belangte Behörde, vertreten durch die Finanzprokuratur, hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der sie dem Beschwerdevorbringen entgegentritt, die Ablehnung der Beschwerdebehandlung anregt und den Antrag stellt, die Beschwerde kostenpflichtig abzuweisen.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Ein Eingriff in das durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte - unter Gesetzesvorbehalt stehende - Recht ist dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewandt hat; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler begangen hat, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen ist, oder wenn sie den angewandten Rechtsvorschriften fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vgl. VfSlg. 11.982/1989, 13.241/1992, 13.489/1993).

2. Dies ist der belangten Behörde im vorliegenden Fall vorzuwerfen:

2.1. Gemäß §37 Abs1 FrG ist (u.a.) eine Ausweisung gemäß §34 Abs1 leg. cit., durch die in das Privat- und Familienleben des Fremden eingegriffen würde, nur zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art8 Abs2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

Gemäß §37 Abs2 leg. cit. darf (u.a.) eine Ausweisung gemäß §34 Abs1 leg. cit. jedenfalls nicht erlassen werden, wenn die Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden und seiner Familie schwerer wiegen als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung. Bei der Abwägung ist - nach dem ausdrücklichen Wortlaut dieser Bestimmung - insbesondere auf "die Dauer des Aufenthaltes und das Ausmaß der Integration des Fremden oder seiner Familienangehörigen" sowie auf "die Intensität der familiären oder sonstigen Bindungen" Bedacht zu nehmen.

2.2. Wie die belangte Behörde selbst ausgeführt hat, besteht eine intensive familiäre Bindung zwischen der 21-jährigen Beschwerdeführerin und ihren Eltern sowie ihrer minderjährigen Schwester, die in Österreich leben und hier gut integriert sind und mit denen sie im gemeinsamen Haushalt lebt; es wohnen auch alle Verwandten der Beschwerdeführerin in Tirol und im angrenzenden Bayern.

In Anbetracht dieser konkreten Umstände erweist sich jedoch die vorgenommene Interessenabwägung als verfehlt: Die Behörde hat bezüglich des Vorbringens, dass die Beschwerdeführerin in ihrem Heimatstaat keinerlei Verwandte mehr habe, auf die alleinige Maßgeblichkeit des in Österreich geführten Privat- und Familienlebens verwiesen, umgekehrt aber nicht ausreichend berücksichtigt, dass das Familienleben der Beschwerdeführerin - unbestritten - ausschließlich in Österreich stattfindet.

Somit hat die Behörde bei ihrer Interessenabwägung gemäß §37 Abs2 FrG dieser Bestimmung einen durch Art8 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt und die Beschwerdeführerin in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt.

Der Bescheid war daher aufzuheben.

III. 1. Die Kostenentscheidung stützt sich auf §88 VfGG; im zugesprochenen Betrag sind Umsatzsteuer in Höhe von € 360,-- sowie der Ersatz der gemäß §17a VfGG entrichteten Eingabengebühr in Höhe von € 180,-- enthalten.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Schlagworte

Fremdenrecht, Privat- und Familienleben

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2005:B1242.2004

Dokumentnummer

JFT_09949699_04B01242_2_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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