RS Vfgh 1998/6/15 B2410/94

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Veröffentlicht am 15.06.1998
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Index

60 Arbeitsrecht
60/03 Kollektives Arbeitsrecht

Norm

B-VG Art18 Abs1
B-VG Art20 Abs2
B-VG Art83 Abs2
B-VG Art133 Z4
B-VG Art144 Abs1 / Allg
B-VG Art144 Abs1 / Legitimation
B-VG Art144 Abs3
StGG Art5
EMRK Art6 Abs1 / Tribunal
VfGG §88
ArbVG §109
ArbVG §144
ArbVG §146

Leitsatz

Keine Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte durch die Abweisung einer Beschwerde gegen einen Bescheid der Schlichtungsstelle beim Arbeits- und Sozialgericht betreffend Erlassung eines Sozialplans und Zahlung zusätzlicher Abfertigungen für die Arbeitnehmer einer in Liquidation befindlichen Druckerei; keine Beschwerdelegitimation der Betriebsnachfolgerin; Tribunalqualität der Schlichtungsstellen iSd der Menschenrechtskonvention; ausreichende gesetzliche Bestimmtheit des Vorgehens der Schlichtungsstellen; Verhältnismäßigkeit des Eigentumseingriffs auch aufgrund des öffentlichen Interesses an der sozialen Abfederung von wirtschaftlich für sinnvoll erachteten Betriebsänderungen; kein Ermessensexzeß

Rechtssatz

Die Schlichtungsstellen sind als Verwaltungsbehörden und ihre Entscheidungen als Bescheide zu qualifizieren. Diese Entscheidungen sind daher nach Art144 Abs1 B-VG vor dem Verfassungsgerichtshof bekämpfbar.

Keine Beschwerdelegitimation der zweitbeschwerdeführenden Partei.

Die Zweitbeschwerdeführerin war nicht Partei des Verwaltungsverfahrens. Die Schlichtungsstelle wurde zur Lösung einer Streitigkeit zwischen dem antragstellenden Betriebsrat und der erstbeschwerdeführenden Partei eingesetzt und hat auch nur diese beiden Streitteile als Parteien des Verwaltungsverfahrens behandelt. Der Umstand allein, daß die Zweitbeschwerdeführerin während des Verfahrens einen Schriftsatz erstattete und an den beiden letzten Verhandlungen der Schlichtungsstelle teilnahm, kann ihr Parteistellung nicht vermitteln.

Keine Relevanz der Frage eines zwischenzeitigen Betriebsübergangs von der erstbeschwerdeführenden auf die zweitbeschwerdeführende Partei.

Keine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter durch Abweisung einer Beschwerde gegen einen Bescheid der Schlichtungsstelle beim Arbeits- und Sozialgericht betreffend Erlassung eines Sozialplans und Zahlung zusätzlicher Abfertigungen für die Arbeitnehmer einer in Liquidation befindlichen Druckerei.

Keine Präjudizialität des §144 ArbVG.

Auch die Behauptung, die Schlichtungsstelle sei gesetzwidrig zusammengesetzt gewesen, wendet sich gegen den - unangefochten gebliebenen - Errichtungsbescheid, durch den die personelle Besetzung der Schlichtungsstelle mit bindender Wirkung festgelegt wurde. Eine allfällige Gesetzwidrigkeit der Zusammensetzung der Schlichtungsstelle kann daher, soweit sie auf den Errichtungsbescheid zurückzuführen ist, nicht den von der Schlichtungsstelle in der Sache erlassenen Bescheid mit Gesetzwidrigkeit belasten; der Vorwurf einer Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter geht daher ins Leere.

Keine Verletzung des Art6 Abs1 EMRK.

Schlichtungsstellen sind als unabhängige kollegiale Verwaltungsbehörden im Sinne des Art20 Abs2 B-VG zu qualifizieren (s E v 11.12.97, G13/97 ua). Angesichts dessen und im Hinblick darauf, daß die Schlichtungsstellen "Organe schiedsgerichtsähnlicher Konstruktion" (so die eben zitierte Entscheidung) sind, sind sie als Tribunale iSd Art6 EMRK zu qualifizieren:

Ihre Organwalter sind weder weisungsgebunden noch haben sie Rechenschaft zu geben, und ihre Entscheidung kann nicht durch ein Verwaltungsorgan aufgehoben werden (vgl. zu diesen Elementen der Unabhängigkeit Frowein-Peukert, EMRK-Kommentar2, 1996, 250). Auch verschlägt der Umstand, daß die Organwalter nicht für eine bestimmte (Mindest)Zeit ernannt sind, nichts. Daß die Position der Beisitzer rechtlich oder faktisch ungleichgewichtig wäre, was zur Verletzung des Art6 EMRK führen würde (in diesem Sinn auch der Bericht der EKMR 12.12.1983 im Fall Bramelied und Malmström, DR 38, 18; dazu Frowein-Peukert, aaO, 254), ist nicht zu erkennen.

Ausreichende gesetzliche Vorherbestimmung des Vorgehens der Schlichtungsstellen iSd Art18 Abs1 B-VG.

Akte der Zwangsschlichtung, also Akte, mit denen sogenannte Regelungsstreitigkeiten entschieden werden, sind als gesetzesvollziehende Verwaltung zu qualifizieren und unterliegen dem Gesetzmäßigkeitsprinzip der Verfassung.

Es hängt u.a. vom Gegenstand der Regelung ab, auf welche Weise und in welchem Ausmaß der Gesetzgeber das Verhalten der Verwaltung vorherbestimmen muß (vgl. schon VfSlg. 8212/1977, 8389/1978); insbesondere für gesetzliche Regelungen im Bereich des Wirtschaftlichen ist keine so weit gehende Vorherbestimmung des Verwaltungshandelns erforderlich, wie in jenen Bereichen, in denen der Sache nach eine gesetzliche Regelung das Behördenhandeln exakter zu determinieren vermag (VfSlg. 11.938/1988).

Die gesetzlichen Regelungen, die dem bekämpften Bescheid zugrunde liegen, weisen eine dem Regelungsgegenstand und der Funktion der eine Betriebsvereinbarung substituierenden Entscheidung adäquaten Determinierungsgrad auf (s auch VfSlg. 13785/1994).

Unter Bedachtnahme auf den Regelungsgegenstand, die Konstruktion und die Funktion der von der Schlichtungsstelle zu treffenden Entscheidung bestehen aber auch insofern keine Bedenken ob der ausreichenden gesetzlichen Vorherbestimmung des Handelns der Schlichtungsstelle.

Keine Verletzung im Eigentumsrecht.

Die Ermächtigung einer schiedsgerichtsähnlichen Einrichtung zur Erlassung von Sozialplänen aus Anlaß bestimmter Betriebsänderungen im Falle des Scheiterns von Verhandlungen um eine Betriebsvereinbarung findet entgegen der Auffassung der Beschwerde ihre Rechtfertigung in den Interessen der Arbeitnehmerschaft an der sozialen Abfederung von Betriebsänderungen, die ein Unternehmen als betriebswirtschaftlich sinnvoll erachtet; derartigen Interessen kann die Qualifikation als öffentliche Interessen nicht abgesprochen werden. Auch hat der Verfassungsgerichtshof angesichts der Beschränkung der Zuständigkeit der Schlichtungsstellen einerseits und des ihnen übertragenen Abwägungsgebots andererseits, das sie verpflichtet, auch die Interessen des betroffenen Unternehmens angemessen zu berücksichtigen, nicht finden, daß der Eigentumseingriff unverhältnismäßig wäre.

Davon, daß die belangte Behörde einen Ermessensexzeß und damit einen so schweren Fehler begangen hätte, daß dies einer Gesetzlosigkeit oder geradezu denkunmöglichen Anwendung der entsprechenden Bestimmungen des ArbVG gleichzuhalten wäre, kann jedenfalls keine Rede sein.

Der Antrag auf Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof war abzuweisen, da die Angelegenheit angesichts der Qualifikation der belangten Behörde (Schlichtungsstelle beim Arbeits- und Sozialgericht; vgl. VfGH 11.12.1997, G13/97 ua.) gemäß Art133 Z4 B-VG von der Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes ausgenommen ist (vgl. zB VfSlg. 14.309/1995).

Kostenzuspruch an den mitbeteiligten Arbeiterbetriebsrat der Druckerei.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Arbeitsverfassung, VfGH / Legitimation, Determinierungsgebot, Ermessen, VfGH / Abtretung, VfGH / Kosten, VfGH / Beteiligter

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1998:B2410.1994

Dokumentnummer

JFR_10019385_94B02410_2_01
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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