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62 ArbeitsmarktverwaltungNorm
B-VG Art18 Abs2Leitsatz
Feststellung der Gesetzwidrigkeit von Bestimmungen zweier Erlässe des Bundesministers für Arbeit und Soziales sowie des Leitfadens für die Anwendung des Assoziationsratsbeschlusses EWG-Türkei Nr 1/80 betreffend die Beschäftigung türkischer Arbeitnehmer bzw deren Familienangehörigen; Qualifizierung der in Prüfung gezogenen Dokumente als Rechtsverordnungen infolge Beinhaltung normativer, die Rechtsposition türkischer Arbeitnehmer gestaltender Anordnungen; mangelnde Kundmachung im Bundesgesetzblatt; Gesetzlosigkeit der Verordnungsbestimmungen mangels innerstaatlicher gesetzlicher Grundlage; keine inhaltliche Modifikation des Art18 Abs2 B-VG durch den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union; Zuständigkeit des Gesetzgebers zur Umsetzung gemeinschaftsrechtlicher, einer mitgliedstaatlichen Konkretisierung zugänglicher VorschriftenRechtssatz
Zulässigkeit der Verfahren zur Prüfung zweier Erlässe des Bundesministers für Arbeit und Soziales sowie des Leitfadens für die Anwendung des Assoziationsratsbeschlusses EWG-Türkei Nr 1/80.
Die Erlässe des Bundesministers (damals:) für Arbeit und Soziales haben durch ihre Versendung an den Vorstand des Arbeitsmarktservice Österreich, an die Arbeitsmarktservice der Länder und an sonstige Dienststellen ein solches Maß an Publizität erlangt, daß sie damit in die Rechtsordnung Eingang gefunden haben. Gleiches gilt für den "Leitfaden".
Insbesondere aufgrund des letzten Absatzes des Punktes 1 des Erlasses vom 28.08.96, nach dem der Leitfaden integrierender Bestandteil dieses Erlasses ist, ist auch der Leitfaden ungeachtet seines äußeren Erscheinungsbildes als ein dem Bundesminister zuzurechnender Rechtsakt zu qualifizieren.
Zur Qualität eines Rechtsaktes als Verordnung kommt es nicht auf die Intention der Behörde an. In der Sache wird durch die in Prüfung stehenden Bestimmungen die Rechtssphäre türkischer Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen sehr wohl gestaltet.
Die Bestimmungen gestalten die Rechte türkischer Arbeitnehmer, indem sie die in den Art6 und Art7 Assoziationsratsbeschluß verwendeten unbestimmten Rechtsbegriffe in ganz bestimmter Weise konkretisieren, damit festlegen, daß Personen die die so konkretisierten Voraussetzungen erfüllen, Anspruch auf Erlassung eines Feststellungsbescheides haben und Personen, die sie nicht erfüllen, einen solchen Anspruch nicht haben. Genau diese Wirkung auf die Rechtsposition türkischer Arbeitnehmer ist es aber, die die Enunziationen inhaltlich zu Rechtsverordnungen machen.
Die in Prüfung genommenen Bestimmungen wären als Rechtsverordnungen eines Bundesministers nach §2 Abs1 litf BGBlG 1985 im Bundesgesetzblatt kundzumachen gewesen. Da eine Publikation im Bundesgesetzblatt unterblieben ist, erweisen sie sich als im Grunde der genannten gesetzlichen Publikationsvorschrift gesetzwidrig.
Die in Prüfung genommenen Bestimmungen, die sich unmittelbar auf Art6 und Art7 Assoziationsratsbeschluß stützen, entbehren aber auch einer innerstaatlichen gesetzlichen Grundlage und sind daher gesetzlos ergangen.
Wollte man annehmen, daß Art18 Abs2 B-VG durch den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union so modifiziert worden wäre, daß als Gesetz im Sinne dieser Verfassungsnorm auch eine unmittelbar anwendbare Vorschrift des Gemeinschaftsrechts zu verstehen wäre, die ihrerseits inhaltlich ausreichend vorherbestimmt ist, um eine Verordnung zu tragen, so führte das dazu, daß eine derartige, unmittelbar auf Gemeinschaftsrecht gegründete Verordnung der rechtlichen Kontrolle weitgehend entzogen wäre: Dem Verfassungsgerichtshof steht nämlich eine Kompetenz, generelle österreichische Rechtsnormen am Maßstab des Gemeinschaftrechts zu prüfen nicht zu und auch der EuGH ist nicht befugt, mitgliedstaatliche Rechtsvorschriften auf ihre Übereinstimmung mit dem Gemeinschaftsrecht zu überprüfen; ein Widerspruch einer generellen österreichischen Rechtsvorschrift zu gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben führt (bloß) zu ihrer - von allen Staatsorgangen incidenter wahrzunehmenden - Unanwendbarkeit.
Die erwogene Interpretation führte zum Ergebnis, daß der umfassende Parlamentsvorbehalt des Art18 Abs2 B-VG im Wirkungsbereich gemeinschaftsrechtlicher Regelungen gravierend eingeschränkt würde, wäre doch damit den Organen der Verwaltung in Konkurrenz zu den Gesetzgebungsorganen die Möglichkeit zur Umsetzung unmittelbar anwendbaren Gemeinschaftsrechts eröffnet.
Nichts zwingt zu einer Interpretation, die eine weitergehende Verfassungsmodifikation annimmt, als erforderlich ist, um den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts zu entsprechen. Angesichts dessen hat sich die vorläufige Annahme des Verfassungsgerichtshofes, daß zur Umsetzung gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften, die wie die Bestimmungen des Art6 und Art7 Assoziationsratsbeschluß einer mitgliedsstaatlichen Konkretisierung zugänglich sind, nach dem Konzept des Art18 Abs2 B-VG nicht der Verordnungsgeber, sondern der Gesetzgeber berufen ist.
Hinsichtlich des Leitfadens ist der Verfassungsgerichtshof zur Auffassung gelangt, daß die ganze Verordnung der gesetzlichen Grundlage entbehrt und in gesetzwidriger Weise kundgemacht wurde; er hat daher hinsichtlich dieser Verordnung gemäß Art139 Abs3 lita und litc iVm Art139 Abs4 B-VG ausgesprochen, daß die ganze Verordnung gesetzwidrig war. Hinsichtlich der beiden Erlässe des Bundesministers (damals:) für Arbeit und Soziales war eine Feststellung, daß sie insgesamt gesetzlos waren und in gesetzwidriger Weise kundgemacht wurden, hingegen nicht zu treffen, da Teile dieser Erlässe ohne normativen Gehalt sind.
(Anlaßfall B1050/97, E v 15.10.98, Aufhebung des angefochtenen Bescheides).
Entscheidungstexte
Schlagworte
VfGH / Prüfungsgegenstand, Verordnungsbegriff, RechtsV, Arbeitsrecht, Ausländerbeschäftigung, Verordnung Kundmachung, Verordnungserlassung, EU-Recht, VfGH / VerwerfungsumfangEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1998:V6.1998Dokumentnummer
JFR_10019384_98V00006_01