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L9 Sozial- und GesundheitsrechtNorm
B-VG Art144 Abs1 / AnlaßfallSpruch
Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in seinen Rechten verletzt worden.
Der Bescheid wird aufgehoben.
Das Land Wien ist schuldig, dem Beschwerdeführer zu Handen seiner Rechtsvertreterin die mit EUR 2340,-- bestimmten Prozesskosten binnen vierzehn Tagen bei Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Gemäß §43 Abs1 des Wiener Behindertengesetzes 1986 (mit dem Landesgesetz LGBl. Nr. 46/2004 wurde der Kurztitel dieses Landesgesetzes in "Wiener Behindertengesetz - WBHG" geändert) hat der Behinderte ua. zu den Maßnahmen der Eingliederungshilfe, der Beschäftigungstherapie und der Hilfe zur Unterbringung einen Kostenbeitrag zu leisten.
§43 Abs4 erster Satz WBHG idF des Landesgesetzes LGBl. Nr. 77/2001 (die übrigen Teile des §43 Abs4 regeln die Beitragspflicht der Angehörigen des Behinderten) lautet:
"(4) Werden dem behinderten Menschen im Rahmen einer Maßnahme nach §24 Unterbringung, Verpflegung und Betreuung gewährt, so sind das Gesamteinkommen des behinderten Menschen und die ihm zuerkannten pflegebezogenen Geldleistungen bis auf einen Betrag in der Höhe von 40 vH des Pflegegeldes der Stufe 3 zum Kostenbeitrag heranzuziehen.
..."
Gemäß §5 des Wiener Pflegegeldgesetzes - WPGG (in der im vorliegenden Fall anzuwendenden Fassung des Landesgesetzes LGBl. Nr. 112/2001) beträgt das Pflegegeld der Stufe 3 monatlich EUR 413,50, sodass sich unter Anwendung des in §43 Abs4 WBHG genannten Prozentsatzes ein Freibetrag von EUR 165,40 ergibt.
§11 WBHG (idF der Landesgesetze LGBl. Nr. 42/1993 und LGBl. Nr. 77/2001) regelt, was unter "Gesamteinkommen" iS des §43 zu verstehen ist:
"Gesamteinkommen
§11. (1) Gesamteinkommen ist die Summe aller Einkünfte einer Person nach Abzug des zur Erzielung dieser Einkünfte notwendigen Aufwandes. Als Einkünfte gelten alle Bezüge in Geld oder Geldeswert einschließlich des Unterhaltsanspruches nach Maßgabe des §12 Abs1.
(2) Bei Feststellung des Gesamteinkommens bleiben außer Betracht:
1. die Familienbeihilfen nach dem Familienlastenausgleichsgesetz 1967, BGBl. Nr. 376,
2. Bezüge aus Leistungen der Sozialhilfe und der freien Wohlfahrtspflege,
3. Pflegebezogene Geldleistungen,
4. Lehrlingsentschädigungen in der Höhe des Richtsatzes der Sozialhilfe, der für den Lehrling nach seinem Familienstand anzuwenden wäre,
5. Sonderzahlungen."
2. Dem Beschwerdeführer wird seit dem Jahr 1994 gemäß §24 WBHG Hilfe durch Unterbringung, Verpflegung und Betreuung in einem Wohnheim gewährt.
Der Beschwerdeführer bezieht seit 1. Jänner 2004 monatlich eine Nettopension in Höhe von EUR 509,29, eine Ausgleichszulage in Höhe von EUR 143,90 sowie Pflegegeld der Stufe 2 in Höhe von EUR 268,--. Auf Grund des in §324 Abs3 ASVG und in §13 Abs1 des Bundespflegegeldgesetzes (BPGG) normierten Übergangs seines Pensions- bzw. Pflegegeldanspruchs an das Land Wien verblieben dem Beschwerdeführer 20 vH seiner Pension (EUR 130,64) und das in §13 Abs1 (iVm §47 Abs3) BPGG vorgesehene Taschengeld (EUR 82,70), insgesamt somit EUR 213,34.
3. Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid der Wiener Landesregierung vom 1. Juli 2004 wurde der Beschwerdeführer verpflichtet, für seine Unterbringung in einem Wohnheim ab 1. Jänner 2004 einen monatlichen Kostenbeitrag in Höhe von EUR 47,94 (EUR 213,34 abzüglich EUR 165,40) zu leisten.
Gegen diesen - keinem weiteren Rechtszug unterliegenden - Bescheid richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, worin die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz (Art7 Abs1 B-VG) sowie in Rechten wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes (§43 Abs4 WBHG) behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides begehrt wird.
Die belangte Behörde hat eine Gegenschrift erstattet, worin sie den angefochtenen Bescheid verteidigt und die Beschwerdeabweisung beantragt.
II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:
1. Der Verfassungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom heutigen Tag, G137/04, die Bestimmung des §43 Abs4 erster Satz WBHG als verfassungswidrig aufgehoben.
2. Gemäß Art140 Abs7 B-VG wirkt die Aufhebung eines Gesetzes auf den Anlassfall zurück. Hinsichtlich des Anlassfalles ist daher so vorzugehen, als hätte die als verfassungswidrig erkannte Norm bereits zum Zeitpunkt der Verwirklichung des dem Bescheid zugrunde liegenden Sachverhaltes nicht mehr der Rechtsordnung angehört. Dem in Art140 Abs7 B-VG genannten Anlassfall (im engeren Sinn), anlässlich dessen das Gesetzesprüfungsverfahren tatsächlich eingeleitet wurde, stehen solche Fälle gleich, die zu Beginn der mündlichen Verhandlung (sollte eine solche nicht stattfinden: zu Beginn der nichtöffentlichen Beratung) beim Verfassungsgerichtshof bereits anhängig waren (vgl. VfSlg. 10.616/1985, 10.736/1985, 10.954/1986, 11.711/1988).
3. Die nichtöffentliche Beratung in dem zu G137/04 geführten Verfahren begann am heutigen Tag. Die vorliegende Beschwerde ist beim Verfassungsgerichtshof am 6. September 2004 eingelangt, war also zu Beginn der nichtöffentlichen Beratung schon anhängig. Nach dem soeben Gesagten steht der Fall daher einem Anlassfall gleich.
4. Die belangte Behörde hat eine verfassungswidrige Gesetzesbestimmung angewendet. Nach Lage des Falles ist es offenkundig, dass die Anwendung dieser Bestimmung für die Rechtsstellung des Beschwerdeführers nachteilig war.
Der Beschwerdeführer wurde also durch den angefochtenen Bescheid wegen Anwendung einer verfassungswidrigen Gesetzesbestimmung in seinen Rechten verletzt (zB VfSlg. 10.404/1985).
Der Bescheid war daher aufzuheben.
5. Die Kostenentscheidung stützt sich auf §88 VfGG. Die zugesprochenen Kosten enthalten Umsatzsteuer in Höhe von EUR 360,-- sowie den Ersatz der entrichteten Eingabengebühr (§17a VfGG).
6. Dies konnte ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden (§19 Abs4 Z3 VfGG).
Schlagworte
VfGH / AnlaßfallEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2005:B1149.2004Dokumentnummer
JFT_09949691_04B01149_00