RS Vfgh 1998/6/25 G384/96

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Veröffentlicht am 25.06.1998
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Index

60 Arbeitsrecht
60/01 Arbeitsvertragsrecht

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art140 Abs1 / Präjudizialität
B-VG Art140 Abs1 / Prüfungsmaßstab
UrlaubsG §2, §9, §10, §19 idF ArtIII Sozialrechts-ÄnderungsG 1995, BGBl 832

Leitsatz

Keine verfassungswidrige Rückwirkung und keine Verletzung des Vertrauensschutzes durch eine aufgrund der geänderten Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes zur Aliquotierung von Urlaubsansprüchen durchgeführte Änderung des Urlaubsgesetzes und der Festsetzung des Geltungsbeginns dieser Gesetzesänderung; rückwirkende Reaktion des Gesetzgebers zur Wiederherstellung des bisherigen Rechtszustandes vor dem Hintergrund einer Änderung oberstgerichtlicher Rechtsprechung sachlich gerechtfertigt; kein übermäßig langes Zuwarten des Gesetzgebers; kein Eingriff in frühere Dispositionen der Arbeitgeber

Rechtssatz

Präjudizialität des §19 Abs3 UrlaubsG gegeben.

Ausgehend vom Wortlaut des §19 Abs3 UrlaubsG, insbesondere der angefochtenen Wortfolge, erscheint es dem Verfassungsgerichtshof jedenfalls denkmöglich, daß diese vom antragstellenden Gericht anzuwenden ist. Ob §19 Abs3 UrlaubsG vom antragstellenden Gericht in jeder Hinsicht zutreffend ausgelegt wurde, ist im Rahmen der Prozeßvoraussetzungen nicht weitergehend zu prüfen.

Abweisung des Antrags, im §19 Abs3 UrlaubsG BGBl 390/1976 idF Sozialrechts-ÄnderungsG 1995 BGBl 832/1995 die gemäß ArtIII Z4 Sozialrechts-ÄnderungsG 1995 eingefügte Wortfolge "und gelten ab dem Urlaubsjahr, das im Jahr 1994 begonnen hat" als verfassungswidrig aufzuheben.

Die in Prüfung gezogene Gesetzesänderung steht im Zusammenhang mit drei Urteilen des Obersten Gerichtshofes aus dem Jahre 1994 (sc OGH 25.05.94, 9 Ob A38/94 = SZ 67/94; OGH 31.08.94; 8 Ob A268/94 und OGH 27.10.94, 8 Ob A279/94), mit denen der Oberste Gerichtshof unter ausdrücklicher Abkehr von seiner früheren Rechtsprechung (vgl SZ 55/124) ausgesprochen hat, daß bei Vorliegen von Zeiten einer Dienstverhinderung ohne Entgeltfortzahlungsanspruch (in der Folge kurz: entgeltfreie Dienstzeiten) der jährliche Urlaubsanspruch aliquot zu kürzen ist.

Auf bereits vor dem Tag des Inkrafttretens der genannten Bestimmungen beendete Arbeitsverhältnisse ist §9 Abs1 letzter Satz UrlaubsG idF BGBl 832/1995 nicht anzuwenden.

Es trifft zu, daß in den Fällen, in denen ein Dienstverhältnis über den 01.12.95 hinaus andauert, die geänderten Bestimmungen für alle frühestens im Jahr 1994 begonnenen Urlaubsjahre anzuwenden sind. Damit wird zwar für jene Urlaubsjahre, die zwischen dem 01.01.94 begonnen und vor dem 01.12.95 geendet haben, eine sich aus der oben erwähnten (neueren) Rechtsprechung ergebende Urlaubsaliquotierung aufgehoben (und insoweit kann dem Gesetz durch seine Anknüpfung an Sachverhalte vor seinem Inkrafttreten ein gewisser rückwirkender Effekt nicht abgesprochen werden), es wird jedoch dem Arbeitgeber nicht schlechthin eine rückwirkende Last auferlegt: Dieser zusätzliche, eine allfällige Aliquotierung aus den genannten Jahren ausgleichende Urlaubsanspruch entsteht nämlich erst mit 01.12.95. Nur so kann die Anordnung des §2 Abs2 letzter Satz UrlaubsG idF der Novelle BGBl 832/1995 iVm §9 Abs3 UrlaubsG gedeutet werden; auszuschließen ist jedenfalls ein Normverständnis, nach welchem der Gesetzgeber einen Urlaubsentschädigungsanspruch für rückwirkend zuerkannten (und daher während der Urlaubsjahre nicht konsumierbaren) Urlaub eingeräumt hätte.

Der Verfassungsgerichtshof zweifelt nicht daran, daß ein Vertrauen auf ein bestimmtes Urlaubsausmaß bei Vorliegen von entgeltfreien Dienstzeiten nicht bloß als ein - im allgemeinen nicht geschütztes - Vertrauen auf ein unverändertes Fortdauern dieser Rechtslage anzusehen ist (vgl in diesem Zusammenhang VfSlg 13657/1993), zumal der Arbeitnehmer im Hinblick auf seine (vermeintlich bestehenden) Urlaubsansprüche disponiert bzw - im umgekehrten Sinne - auch der Arbeitgeber vorhersehbare Zeiten der Abwesenheit von Dienstnehmern durch Urlaubskonsumation immerhin in seiner Personalpolitik berücksichtigen wird. Es kann daher nicht davon die Rede sein, daß in der im vorliegenden Fall behandelten Rechtsfrage ein verfassungsrechtlich geschütztes Vertrauen von vornherein nicht entstehen konnte.

Ob ein rückwirkendes Gesetz vertrauensverletzend wirkt, hängt von einer Mehrzahl von Umständen ab, insbesondere von der Klarheit der gesetzlichen Regelung, die durch die rückwirkende Bestimmung geändert wird; weiters davon, wie diese von den Gerichten vor der rückwirkenden Regelung gehandhabt wurde. In diesem Zusammenhang kommt der Rechtsprechung oberster Gerichte maßgebliche Bedeutung zu (vgl in diesem Sinne VfSlg 12241/1989, 12322/1990, 12479/1990).

Eine geänderte Rechtsprechung selbst eines Höchstgerichtes kann nicht sofort Vertrauensschutz in demselben Ausmaß beanspruchen, wie eine Maßnahme des Gesetzgebers.

Gerade vor dem Hintergrund einer Änderung oberstgerichtlicher Rechtsprechung kann in dem Gesichtspunkt der Wahrung des Vertrauensschutzes eine sachliche Rechtfertigung für eine den bisherigen Rechtszustand wieder herstellende, je nach Sachlage auch rückwirkende Reaktion des Gesetzgebers liegen.

Dabei wird dem Gesetzgeber in der Frage der Rückwirkung seiner Maßnahme ein umso größerer rechtspolitischer Spielraum zuzubilligen sein, je näher diese Maßnahme zeitlich an die Rechtsprechungsänderung anschließt.

Der Verfassungsgerichtshof weist zur Vermeidung von Mißverständnissen an dieser Stelle darauf hin, daß er es nicht als seine Aufgabe betrachtet, die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes - sei es jene vor, sei es jene nach der Judikaturänderung - hinsichtlich ihrer "Richtigkeit" vor dem Hintergrund der anzuwendenden Rechtsvorschriften zu bewerten oder zu überprüfen; er hat, sofern - wie hier - beide Rechtsprechungslinien den angewendeten Rechtsnormen augenscheinlich keinen verfassungswidrigen Inhalt unterstellen, nach dem Vorgesagten lediglich das Faktum eines Abgehens von der bisherigen Rechtsprechung als ein Beurteilungskriterium für die sachliche Rechtfertigung einer rückwirkenden gesetzgeberischen Maßnahme in die von ihm vorzunehmende Abwägung einzubeziehen.

Es kann im vorliegenden Fall im Sinne des vorstehend Gesagten nicht die Rede davon sein, daß der Gesetzgeber mit seiner Reaktion übermäßig lange zugewartet hätte. Es stand dem Gesetzgeber frei, die Klärung der Rechtslage im Sinne der früheren Rechtsprechung vorzunehmen, sowie, sie zum Zwecke einer größtmöglichen Kontinuität auch auf die vor dem Inkrafttreten der Novelle begonnenen Urlaubsjahre zu erstrecken.

Dadurch, daß für alle betroffenen Arbeitnehmer ab dem 01.12.95 ein neuer Urlaubsanspruch im Ausmaß der eingetretenen Verkürzung entstanden ist, wird eine Gleichbehandlung aller betroffenen Arbeitnehmer bewirkt, und es wird auch nicht in frühere Dispositionen der betroffenen Arbeitgeber eingegriffen.

Entscheidungstexte

Schlagworte

VfGH / Präjudizialität, Auslegung, Arbeitsrecht, Urlaub, Vertrauensschutz, Rückwirkung, Geltungsbereich (zeitlicher) eines Gesetzes, Rechtspolitik, VfGH / Prüfungsmaßstab

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1998:G384.1996

Dokumentnummer

JFR_10019375_96G00384_01
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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