RS Vfgh 1998/12/17 B3028/97

JUSLINE Rechtssatz

Veröffentlicht am 17.12.1998
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Index

L4 Innere Verwaltung
L4610 Tierschutz

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Verwaltungsakt
B-VG Art144 Abs1 / Allg
StGG Art14
EMRK Art9
EMRK Art60
Richtlinie des Rates 93/119/EG über den Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Schlachtung oder Tötung
VStG §7
Vlbg TierschutzG §11
StV St Germain 1919 Art63 Abs2

Leitsatz

Denkunmögliche Annahme eines Verbotes der rituellen Schächtung im Vlbg Tierschutzgesetz; verfassungswidrige Gesetzesauslegung im Hinblick auf die Religionsfreiheit; Vereinbarkeit des Schächtens nach islamischem Ritus mit der öffentlichen Ordnung und den guten Sitten; verfassungskonforme Auslegung des Vlbg Tierschutzgesetzes auch im Hinblick auf eine Tierschutzrichtlinie der EU geboten; Gleichheitsverletzung durch die Bestrafung des Beschwerdeführers als Beitragstäter mangels einer tauglichen Haupttathandlung

Rechtssatz

Da unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Falles nicht angenommen werden kann, daß der Beschwerdeführer die volle Berufung in der Folge nur auf die Strafhöhe eingeschränkt hat und auch sonst keine Prozeßhindernisse hervorgekommen sind, erweist sich die Beschwerde als zulässig.

Die Schächtung ist eine im Judentum und im Islam verbreitete Form der rituellen Schlachtung von Tieren zum Zwecke der vollständigen Entblutung durch Durchschneiden von Halsschlagader, Luftröhre und Speiseröhre, welches ohne vorherige Betäubung des Tieres erfolgt. Es ist in der bisherigen Lehre und Rechtsprechung nahezu unbestritten, daß die Schächtung als religiöser Brauch und damit als Teil der Religionsausübung in den Schutzbereich der Art14 StGG, Art63 Abs2 StV St. Germain 1919 und Art9 Abs1 EMRK fällt (siehe auch OGH 15 Os 27,28/96).

Es kann für den Schutz einer der Religionsausübung dienenden Handlung nicht darauf ankommen, ob innerhalb einer gesetzlich anerkannten Religionsgemeinschaft einheitliche Auffassungen über deren Modalitäten bestehen.

Es unterliegen nicht nur rituelle Vorgänge, sondern auch bloß religiöse Gebräuche dem Grundrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit. Entscheidend ist nur, daß es sich nicht bloß um eine von einer Einzelperson behauptete oder vorgeschobene, sondern um die tatsächliche Übung eines bestimmten Glaubens oder eines Bekenntnisses handelt, daß sich also eine bestimmte Form der gemeinsamen religiösen Betätigung herausgebildet hat (VfSlg 2002/1950).

Ein Schächtungsverbot stellt daher einen Eingriff in die vorerwähnten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte dar.

Die Verfassungsbestimmungen zur Religionsfreiheit sind insofern als eine Einheit anzusehen, als Art14 StGG durch Art63 Abs2 StV St. Germain 1919 ergänzt wird und die dort genannten Schranken in Art9 Abs2 EMRK näher umschrieben werden.

Der in Art63 Abs2 StV St. Germain 1919 enthaltene Vorbehalt ist somit enger gefaßt als jener des Art9 Abs2 EMRK. Nach dem Günstigkeitsprinzip des Art60 EMRK ist daher die Zulässigkeit eines Schächtungsverbotes anhand dieses Schrankenvorbehaltes zu beurteilen.

Es darf daher die Ausübung der Religion auch bei Vorliegen der materiellen Voraussetzungen des Art63 Abs2 StV St. Germain 1919 keinen Beschränkungen unterworfen werden, die nicht durch Gesetz vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft zum Schutze der öffentlichen Ordnung oder der guten Sitten notwendig sind.

Unter den Begriff der öffentlichen Ordnung im Sinne des Art63 Abs2 StV St. Germain 1919 fallen nur Regelungen, die für das Funktionieren des Zusammenlebens der Menschen im Staate wesentlich sind, wie dies etwa für die Grundsätze des Straßenpolizeirechts (VfSlg 3505/1959) oder für die Vorschriften über die ordnungsgemäße Bestattung von Leichen (VfSlg 3711/1960) bejaht wurde. Mit der öffentlichen Ordnung unvereinbar sind also nur Handlungen, die das Zusammenleben der Menschen im Staate empfindlich stören.

Der Verfassungsgerichtshof übersieht nicht, daß in den letzten Jahrzehnten insoweit ein Wertewandel eingetreten ist, als sich nach heutiger Auffassung im Tierschutz ein weithin anerkanntes und bedeutsames öffentliches Interesse verkörpert. Dem Tierschutz kommt aber - vor dem Hintergrund der in den Grundrechten zum Ausdruck kommenden Werteskala - unter Berücksichtigung aller Umstände deshalb noch kein gegenüber dem Recht auf Freiheit der Religionsausübung durchschlagendes Gewicht zu. Der Tierschutz ist insbesondere für die öffentliche Ordnung nicht von derart zentraler Bedeutung, daß er das Verbot einer Handlung verlangt, die einem jahrtausendealten Ritus entspricht, der (aus dem Blickwinkel der Zwecke des Tierschutzes gesehen) seinerseits nicht etwa in einer gleichgültigen oder gar aggressiven Haltung dem Tier gegenüber wurzelt, sondern auf die bestmögliche Vermeidung von Schmerzen, Leiden und Angst bei den zu schlachtenden Tieren höchsten Wert legt.

Der Gerichtshof vermag nicht zu erkennen, daß die Schächtung als empfindliche Störung des Zusammenlebens der Menschen im Staate angesehen werden kann oder von ihr eine Bedrohung der öffentlichen Ordnung ausginge, die allein ihr Verbot vor dem dargelegten verfassungsrechtlichen Hintergrund rechtfertigen könnte.

Der Verfassungsgerichtshof kann aber auch nicht finden, daß die Schächtung nach dem israelitischen oder islamischen Ritus mit den guten Sitten unvereinbar im Sinne des Art63 Abs2 StV St. Germain 1919 wäre. Die guten Sitten bezeichnen nur jene allgemein in der Bevölkerung verankerten Vorstellungen von einer "richtigen" Lebensführung, die durch ausdrückliche gesetzliche Anordnung geschützt sind.

Die belangte Behörde hat insoweit, als sie von einem Verbot der rituellen Schächtung ausging und den Beschwerdeführer als Beitragstäter nach §7 VStG bestraft hat, nicht nur dem Gesetz einen denkunmöglichen, weil im Hinblick auf Art14 StGG, Art9 EMRK und Art63 Abs2 StV St. Germain 1919 verfassungswidrigen Gehalt unterstellt, sie hat auch den Beschwerdeführer als Beitragstäter bestraft, obwohl bei verfassungskonformer Interpretation von einer Haupttat gar keine Rede sein kann. Dadurch hat sie gegenüber dem Beschwerdeführer Willkür geübt und ihn damit im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz verletzt.

Das Schächten nach islamischem Ritus ist weder mit der öffentlichen Ordnung noch mit den guten Sitten unvereinbar. Ein Verbot des (fachgerechten) Schächtens ist daher in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig; es verstieße gegen Art14 StGG, Art63 Abs2 StV St. Germain 1919 und Art9 EMRK und wäre daher verfassungswidrig.

Bei verfassungskonformer Interpretation enthält §11 Abs1 Vlbg TierschutzG insofern kein generelles Gebot der Betäubung des Tieres vor der Schlachtung, als das Kriterium der Zumutbarkeit - bei einem grundrechtlich geprägten Verständnis - durchaus auch eine Schächtung nach islamischem oder israelitischem Ritus zuläßt.

Für diese Interpretation des §11 Abs1 leg cit spricht auch, daß sie der Richtlinie 93/119/EG des Rates über den Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Schlachtung oder Tötung Rechnung trägt und dem Gesetz einen gemeinschaftsrechtskonformen Inhalt beimißt. Der Verfassungsgerichtshof ist der Ansicht, daß die Richtlinie insoweit die Beibehaltung strengerer Bestimmungen nicht zuläßt, als die Berücksichtigung der genannten religiösen Riten in Rede steht.

Die ausdrückliche Einbeziehung des Zumutbarkeitselementes in das Tatbild des §11 leg cit, an welches die Strafnorm des §18 anknüpft, bedeutet, daß das betäubungslose Schlachten im Falle der Unzumutbarkeit der Betäubung aus religiösen Gründen nicht tatbildlich ist, ohne daß auf die Frage des Verschuldens im Sinne des §5 VStG zurückgegriffen werden muß. Ist der Tatbestand des §11 Vlbg TierschutzG nicht erfüllt, so kommt mangels einer tauglichen Haupttathandlung im Sinne des §18 Abs1 litg leg cit auch eine Beitragstat im Sinne des §7 VStG nicht in Betracht.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Verwaltungsverfahren, Berufung, Glaubens- und Gewissensfreiheit, Religionsfreiheit, Tierschutz, Verwaltungsstrafrecht, Schuld, Auslegung verfassungskonforme, EU-Recht Richtlinie

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1998:B3028.1997

Dokumentnummer

JFR_10018783_97B03028_01
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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