RS Vfgh 1999/10/14 G91/98, G116/98

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Veröffentlicht am 14.10.1999
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Index

20 Privatrecht allgemein
20/02 Familienrecht

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art140 Abs1 / Individualantrag
B-VG Art140 Abs1 / Prüfungsumfang
EMRK Art8
EMRK Art12
FortpflanzungsmedizinG §3

Leitsatz

Zulässigkeit der Individualanträge auf Aufhebung des Verbots der Eizellspende bzw des Verbots der Samenspende bei der In-vitro-Fertilisation; keine Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte durch die angefochtenen Bestimmungen; kein unverhältnismäßiger Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens; keine Unsachlichkeit der Ungleichbehandlung von homologen und heterologen Formen medizinisch unterstützter Fortpflanzung, insbesondere unter Berücksichtigung des Kindeswohls; keine Verletzung des Rechts auf Familiengründung

Rechtssatz

Grundsätzliche Zulässigkeit der Individualanträge auf Aufhebung von Teilen des §3 FortpflanzungsmedizinG, BGBl 275/1992.

§3 FortpflanzungsmedizinG intendiert nach Wortlaut und Gesetzessystematik (hier vor allem im Zusammenhang mit den begleitenden familienrechtlichen Regelungen des ArtII leg. cit.), in die Privatsphäre der Antragstellerinnen - soweit es um die Erfüllung eines Kindeswunsches durch medizinisch unterstützte Fortpflanzung geht - unmittelbar regulierend einzugreifen.

Die gesetzlichen Verbote des §3 FortpflanzungsmedizinG lassen sich nicht als nur an Ärzte gerichtete Regelungen rein berufsrechtlicher Natur verstehen. Es zeigt nicht zuletzt auch die korrespondierende Strafbestimmung des §23 Abs1 Z1 lita FortpflanzungsmedizinG durch die ihren Adressatenkreis gegenüber jenem der (jeweils betroffenen) Verbotsnorm einschränkende einleitende Wendung "Wer als Arzt" (eine medizinisch unterstützte Fortpflanzung durchführt, die u.a. nach §3 unzulässig ist ... begeht eine Verwaltungsübertretung), daß sich die Verbotsnorm an einen weiteren Adressatenkreis richtet als die Strafbestimmung.

Teilweise Zurückweisung der Anträge.

In Ansehung der Erstantragstellerin liegt eine unmittelbare Betroffenheit nur insoweit vor, als die angegriffenen Gesetzesstellen die Vornahme einer In-vitro-Fertilisation unter Zuhilfenahme einer Samenspende untersagen, in Ansehung der Zweitantragstellerin nur insoweit, als die Verwendung fremder Eizellen untersagt wird. Da §3 Abs1 FortpflanzungsmedizinG beides untersagt und die Antragstellerinnen hinsichtlich der jeweils anderen Methode offensichtlich eine unmittelbare Betroffenheit nicht darzutun vermögen, sind die Anträge, soweit sie sich auf §3 Abs1 FortpflanzungsmedizinG beziehen, jeweils in jenem Umfang zurückzuweisen, in dem die Antragstellerinnen nicht nur jene Wendungen bekämpfen, hinsichtlich derer jeweils eine unmittelbare Betroffenheit im vorstehend dargelegten Sinne besteht.

Abweisung der Anträge.

Es besteht kein Zweifel, daß der von Ehegatten oder Lebensgefährten gefaßte Entschluß, ein Kind haben zu wollen und sich hiezu erforderlicher medizinischer Unterstützung zu bedienen, dem Schutzbereich des Art8 Abs1 EMRK unterliegt. Dies ungeachtet des Umstandes, daß dieser Kindeswunsch nicht ohne Beteiligung von Dritten (und damit nicht nur im rein privaten Bereich) verwirklicht werden kann und damit auch öffentlich in Erscheinung tritt.

Für die Qualifikation eines Lebensbereiches als zum Schutzbereich gehörend kommt es grundsätzlich nicht darauf an, ob und inwieweit aus dem rein privaten Rahmen herausgetreten werden muß, bzw. ob und in welchem Umfang gegebenenfalls dritte Personen und Institutionen mitwirken müssen. Der Grad und die Art und Weise der "Öffentlichkeit" einer solchen notwendigen Beteiligung Dritter ist - gegebenenfalls - im Rahmen der Prüfung der Rechtfertigung eines Eingriffes nach Art8 Abs2 EMRK zu berücksichtigen.

Nach der Rechtsprechung des EGMR besteht ein Spielraum des Gesetzgebers, der sich vor dem Hintergrund des Art8 Abs2 EMRK danach bemißt, inwieweit die möglichen nachteiligen Folgen einer im Rahmen des Privatlebens getroffenen Entscheidung für die öffentliche Ordnung in ihrer Dimension besser oder weniger präzise endgültig abgeschätzt werden können. Insbesondere wenn diese im Rahmen des Privatlebens getroffene Entscheidung "komplizierte wissenschaftliche, rechtliche, moralische und gesellschaftliche Probleme aufwirft" und wenn es sich - wie offenkundig auch hier - um neue medizinische Verfahren handelt, über deren ethische und moralische Implikationen allgemeine, einigermaßen einheitliche Auffassungen in den Mitgliedstaaten der EMRK noch nicht bestehen, ist dieser Spielraum ein relativ weiterer.

Es kann dem Gesetzgeber derzeit nicht entgegengetreten werden, wenn er das zulässige Anwendungsfeld der In-vitro-Fertilisationen, die - zum Unterschied von der Insemination - wegen des hohen Maßes an Technizität die erwähnten besonderen Fragen ethisch-moralischer (zB Zuchtwahl, Vermarktung des weiblichen Körpers, Umgang mit "überzähligen" Embryonen, etc), aber auch gesundheitlicher Natur aufwerfen, aber auch angesichts der besonderen Schwierigkeit der Folgenabschätzung solcher Maßnahmen im Hinblick auf das Wohl des Kindes, auf homologe Methoden einschränken, und ingesamt bei der Zulassung derartiger medizinischer Methoden Zurückhaltung üben wollte.

Nach dem derzeitigen Stand der Erfahrungen kann nämlich nicht ohne weiteres gesagt werden, daß weniger weitreichende Eingriffe ebenso geeignet wären, die möglichen Mißstände hintanzuhalten. Insoweit ist freilich eine Veränderung der Sachlage im Zeitablauf und damit eine in Hinkunft eintretende Verengung des rechtspolitischen Spielraums denkbar, welche den Gesetzgeber auch aus verfassungsrechtlicher Sicht verhalten könnte, der Entwicklung durch eine entsprechende Anpassung der gesetzlichen Regelung Rechnung zu tragen (vgl. VfSlg. 9995/1984 mwH).

Andererseits kann dem Gesetzgeber aber auch nicht vorgeworfen werden, die gewichtigen Interessen von Männern und Frauen, in Ehen oder in Lebensgemeinschaften auch dann gemeinsame Kinder zu haben, wenn es dazu (aufwendiger) medizinischer Unterstützung bedarf, nicht ausreichend berücksichtigt zu haben. Soweit homologe Maßnahmen nicht ausreichen, sondern die Verwirklichung des Kindeswunsches vielmehr heterologe Maßnahmen medizinisch unterstützter Fortpflanzung erforderlich machen würde, kollidieren die Interessen der Wunscheltern mit den genannten öffentlichen Interessen.

Der Gesetzgeber hat mit dem Abstellen auf die Ehe und eheähnliche Lebensgemeinschaft eine Grenzziehung zwischen den (zulässigen) homologen und den (grundsätzlich unzulässigen) heterologen Methoden medizinisch unterstützter Fortpflanzung in einer Weise vorgenommen, welche vor dem dargelegten Hintergrund verfassungsrechtlichen Bedenken nicht begegnet.

Keine Gleichheitsverletzung.

Homologe und heterologe Formen medizinischer Unterstützung müssen aufgrund der ganz verschiedenen Arten von Bedenken, die sie in gesundheitlicher und ethischer Hinsicht, aber auch unter dem Gesichtspunkt des Wohles der solcherart gezeugten und zur Welt gebrachten Kinder aufwerfen, vom Gesetzgeber nicht schematisch gleich behandelt werden.

Auch die Zulassung der heterologen Insemination spricht nicht gegen die Sachlichkeit des Verbotes aller anderen heterologen Formen medizinischer Unterstützung.

Die Eizellspende bringt - zum Unterschied von der Samenspende Dritter - das zusätzliche Problem mit sich, daß ein mittels Eizellspende gezeugtes Kind über zwei biologische Mütter verfügt, nämlich über eine genetische und eine "plazentare"; insoweit werden also - worauf auch die Gesetzesmaterialien hinweisen - durch eine solche Maßnahme der Fortpflanzung "ungewöhnliche Beziehungen" hergestellt, welche das Kindeswohl berühren können.

Der Gesichtspunkt des Kindeswohls schlägt bei der Herstellung ungewöhnlicher Beziehungen durch medizinisch unterstützte Fortpflanzungsmaßnahmen in höherem Maße zu Buche, als bei Maßnahmen, als deren Folge solche ungewöhnlichen Beziehungen nicht hergestellt werden.

Eine schematische Gleichbehandlung der Drittsamenspende bei Insemination und bei In-vitro-Fertilisation ist aus mehreren Gründen unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes nicht geboten.

Dem in den Anträgen angestellten Vergleich mit der Adoption steht entgegen, daß durch diese keine ungewöhnlichen biologischen, sondern bloß rechtliche Verhältnisse hergestellt werden, die jenen gleichen, wie sie zwischen biologisch verwandten Eltern und Kindern bestehen.

Da die Verbote der künstlichen Fortpflanzung mittels In-vitro-Fertilisation bei Samenspende Dritter sowie der Eizellspende vom Gesetzesvorbehalt des Art8 Abs2 EMRK gedeckt sind, liegt auch kein Verstoß gegen Art12 EMRK vor (s. dazu EKMR im Fall Graf-Zwahlen, EuGRZ 1978, 519, wonach ein Eingriff in das Familienleben iSd Art8 Abs1 EMRK, der nach Art8 Abs2 gerechtfertigt ist, nicht zugleich eine Verletzung des Art12 EMRK darstellen kann, sowie VfSlg. 8691/1979, wonach ein Eingriff in das Recht auf Privat- und Familienleben, der zugleich einen Eingriff in das Recht auf Familiengründung iSd Art12 EMRK darstellt, und iSd Art8 Abs2 EMRK gerechtfertigt ist, Art12 EMRK nicht verletzt), sodaß der Bezug zu Art12 EMRK nicht gesondert untersucht zu werden braucht.

Entscheidungstexte

  • G 91/98,G 116/98
    Entscheidungstext VfGH Erkenntnis 14.10.1999 G 91/98,G 116/98

Schlagworte

VfGH / Individualantrag, VfGH / Prüfungsumfang, Fortpflanzungsmedizin, Rechtspolitik, Interessenabwägung, Anpassungspflicht (des Normgebers)

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1999:G91.1998

Dokumentnummer

JFR_10008986_98G00091_01
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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