RS Vfgh 1999/12/1 B2835/96

JUSLINE Rechtssatz

Veröffentlicht am 01.12.1999
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Index

L7 Wirtschaftsrecht
L7200 Beschaffung, Vergabe

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Staatsangehörigkeit
B-VG Art7 Abs1 / Willkür
B-VG Art83 Abs2
B-VG Art133 Z4
EMRK Art6 Abs1 / Tribunal
EMRK Art6 Abs1 / civil rights
Richtlinie des Rates vom 21.12.89. 89/665/EWG, zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentl Liefer- und Bauaufträge
EWR-Abkommen Art4
Tir VergabeG §6
BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1

Leitsatz

Verletzung einer ausländischen Gesellschaft im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch qualifizierte Rechtswidrigkeit einer Entscheidung des Tir Vergabeamtes; völliges Hinwegsetzen über Verfahrensregelungen; keine kollegiale Beratung und Abstimmung über Ergebnis und Bescheidbegründung; Verletzung des Rechts auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter durch fehlerhafte Zusammensetzung des Kollegialorgans aufgrund Auswechslung eines Mitgliedes bloß zur Mitwirkung an der Entscheidungsfindung; Verstoß gegen Art6 EMRK durch Verletzung des äußeren Anscheins der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des über zivilrechtliche Ansprüche entscheidenden Vergabeamtes aufgrund der Überschneidung dienstlicher Aufgabenbereiche einzelner - als Organwalter weisungsgebundener - Mitglieder mit der Tätigkeit im Vergabeamt

Rechtssatz

Keine Anwendbarkeit des Art2 Abs8 der allgemeinen Rechtsmittelrichtlinie 89/665/EWG betreffend die Nachprüfung der Vergabe öffentlicher Aufträge auf die Bestimmungen über die Mitglieder des Tir Vergabeamtes (siehe EuGH vom 04.02.99, Rs C-103/97 - Köllensperger).

Obgleich die beschwerdeführende Gesellschaft eine ausländische juristische Person (mit Sitz in Italien) ist, kann sie sich im vorliegenden Fall auf das Gleichheitsrecht berufen. Ihr kommt nämlich die aus ArtI Abs1 des - seinem Wesen nach gleichfalls nicht auf physische Personen beschränkten - BVG BGBl. 390/1973 abzuleitende, verfassungsgesetzlich geschützte Rechtsposition auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander zu, welche nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes auch dann verletzt ist, wenn die belangte Behörde Willkür geübt hat (vgl. VfSlg. 14.516/1996, 14.699/1996, 15.074/1998 ua.). Angesichts dessen erübrigt sich hier eine genaue Untersuchung der Frage, ob sich die beschwerdeführende Gesellschaft unter Bedachtnahme auf gemeinschaftsrechtliche Verpflichtungen auf die durch Art2 StGG und Art7 B-VG verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte oder auf den vom Nationalrat als verfassungsändernd genehmigten Art4 des EWR-Abkommens, BGBl. 909/1993, berufen könnte, der im Anwendungsbereich dieses Abkommens "jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit" verbietet.

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander und im Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter durch schwere Verfahrensfehler und fehlerhafte Zusammensetzung des Tir Vergabeamtes.

Das Kollegialorgan hat sich über die in Gesetz und Geschäftsordnung vorgesehenen Verfahrensregelungen völlig hinweggesetzt, ja es hat sich als solches mit dem Antrag überhaupt nicht beschäftigt; vielmehr hat Dr. M., der zunächst als Berichterstatter und zum Schluß als Vorsitzender fungierte, die Meinung von Mitgliedern des Tir Vergabeamtes zum Teil mittels schriftlicher Umfrage, zum Teil in einer "Aktenvorbesprechung", zum Teil in direktem persönlichen Kontakt eingeholt. Eine kollegiale Beratung und Abstimmung hat weder über das Ergebnis noch über die Bescheidbegründung stattgefunden; auch ist nicht erkennbar, daß es einen Vortrag des Berichterstatters gegeben oder daß etwa der Entwurf des Bescheides den Mitgliedern irgendwann im Laufe des Verfahrens zur Kenntnis gebracht worden wäre.

Die Besetzung des Kollegialorgans wurde im Hinblick auf den Vorsitzenden und den Berichterstatter während des Verfahrens (und zwar nach der "Aktenvorbesprechung") geändert, wobei nicht einmal die Regelungen des Gesetzes über den Wirksamkeitsbeginn von Rücktritten eingehalten wurden (vgl. §6 Abs4 Tir VergabeG).

Die Leichtfertigkeit, mit der das Tir Vergabeamt seine Entscheidung vorbereitet und getroffen hat, erreicht ein Ausmaß, das die Entscheidung als qualifiziert rechtswidrig erscheinen läßt.

Die konstatierte Fehlerhaftigkeit der Zusammensetzung des Kollegialorgans führt auch zur Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter. Zur Sachentscheidung sind nur jene Mitglieder einer Kollegialbehörde mit richterlichem Einschlag berufen, die an der letzten Verhandlung teilgenommen haben, und eine Auswechslung eines Mitgliedes bloß zur Mitwirkung an der Entscheidungsfindung - wie es im vorliegenden Fall durch Einbeziehung des (neuen) Berichterstatters, der im ganzen Verfahren in keiner Weise mitwirken konnte, da er erst nach Abwicklung des Verfahrens zum Mitglied des Tir Vergabeamtes ernannt wurde - ist unter dem Gesichtspunkt des Grundrechts auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter unzulässig (siehe VfSlg. 11336/1987).

Das Verfahren über die Vergabe eines öffentlichen Auftrages, dessen Gesetzmäßigkeit Gegenstand der nachprüfenden Kontrolle des Tir Vergabeamtes ist, betrifft zivilrechtliche Ansprüche jener Bieter, die im Wettbewerb um die Auftragsvergabe stehen (vgl. etwa VfSlg. 15.106/1998 und VfGH 10.06.99, B 1809-1811/97).

Zwar stellt der Umstand, daß ein Mitglied einer kollegialen Verwaltungsbehörde im Sinne des Art133 Z4 B-VG Verwaltungsbeamter ist und als solcher in seiner sonstigen Tätigkeit weisungsgebunden ist, für sich allein noch keinen Grund dafür dar, an der Unabhängigkeit des Kontrollorgans zu zweifeln.

Dem äußeren Anschein der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit widerstreitet es aber, wenn sich der konkrete Aufgabenbereich eines Mitgliedes eines gemäß Art133 Z4 B-VG eingerichteten Organs mit seinem konkreten Aufgabenbereich als weisungsgebundener Organwalter des Landes derart überschneidet, wie dies beim Tir Vergabeamt sowohl hinsichtlich des Vorsitzenden als auch hinsichtlich des Berichterstatters der Fall ist, die weisungsgebunden gerade in Vergabesachen tätig werden.

Es wird auch der Anschein erweckt, als ob das Tir Vergabeamt geradezu als Teil der Präsidialabteilung IV des Amtes der Tir Landesregierung geführt wird.

Angesichts derartiger Umstände kann nicht mehr davon die Rede sein, daß vom äußeren Anschein her Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Mitglieder nicht entstehen konnten. Die Zusammensetzung des Tir Vergabeamtes im vorliegenden Fall entspricht daher nicht den Anforderungen des Art6 EMRK.

(siehe auch E v 28.02.00, B420/97, B2016/97, B2338/97; weiters E v 27.11.00, B1302/00: keine Änderung der Sachlage durch zwischenzeitig erfolgte Änderung der Geschäftseinteilung des Amtes der Tir Landesregierung; Verfahren zu diesem Zeitpunkt bereits anhängig. siehe auch E v 13.12.00, B1473/99).

Entscheidungstexte

Schlagworte

EU-Recht Richtlinie, Anwendbarkeit, Vergabewesen, Rassendiskriminierung, EWR, Gleichbehandlung (Ausländer), Kollegialbehörde, Behördenzusammensetzung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1999:B2835.1996

Dokumentnummer

JFR_10008799_96B02835_01
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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