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25 Strafprozeß, StrafvollzugNorm
B-VG Art140 Abs1 / IndividualantragLeitsatz
Verfassungswidrigkeit der - auch in Extremfällen nicht verlängerbaren - vierwöchigen Frist der StPO zur Ausführung einer Nichtigkeitsbeschwerde infolge Verstoßes gegen das Recht auf ausreichende Zeit zur Vorbereitung der Verteidigung gemäß der EMRK; Zulässigkeit der Individualanträge der im Rahmen des sog. "WEB-Strafverfahrens" verurteilten Antragsteller auf Aufhebung der Bestimmungen hinsichtlich der vierwöchigen Rechtsmittelfrist infolge unmittelbarer Betroffenheit angesichts der bevorstehenden Ausfertigung des Strafurteils und der zu treffenden Vorbereitungen; kein zumutbarer Umweg; Unzulässigkeit des Individualantrags hinsichtlich der zweiwöchigen Frist zur Gegenäußerung zum Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft mangels aktueller Betroffenheit; aufgehobene Bestimmung in dem dem Antrag zugrundeliegenden Strafverfahren nicht mehr anzuwendenRechtssatz
Zulässigkeit der Individualanträge auf teilweise Aufhebung des §285 Abs1 sowie des §6 Abs1 erster Satz StPO betreffend die vierwöchige Frist zur Ausführung einer Nichtigkeitsbeschwerde.
Die Antragsteller sind von der Bestimmung des §285 Abs1 erster Satz StPO über die Frist zur Ausführung einer angemeldeten Nichtigkeitsbeschwerde schon jetzt unmittelbar betroffen, zumal das Strafurteil mündlich verkündet, die Nichtigkeitsbeschwerden unbestrittenermaßen angemeldet und das Ingangsetzen der Frist daher nur mehr von der Zustellung der schriftlichen Ausfertigung des Strafurteils abhängig ist, mit welcher im Hinblick auf die Verkündung des mündlichen Urteils am 14.06.99 in nächster Zeit zu rechnen ist. Steht für die Antragsteller das Wirksamwerden der in Rede stehenden Frist kurzfristig bevor, so ist es ihnen nicht zumutbar, mit der Antragstellung zuzuwarten, bis die Frist tatsächlich zu laufen begonnen hat (vgl. VfSlg. 12.331/1990).
Die Frist erfordert seitens der Antragsteller und ihrer Verteidiger schon jetzt entsprechende Vorkehrungen zur Vorbereitung der Verfassung der Nichtigkeitsbeschwerde, damit die damit verbundene Arbeitslast - es handelt sich beim "WEB-Strafverfahren" um das größte jemals in Österreich durchgeführte Strafverfahren - innerhalb der gesetzlich vorgesehenen Frist zu bewältigen ist.
Kein zumutbarer Umweg.
Die Möglichkeit, verfassungsrechtliche Bedenken an den Verfassungsgerichtshof - bei Erfolglosigkeit dieses Bemühens - nur um den Preis eines endgültigen Verlustes jeglichen Rechtsschutzes im strafgerichtlichen Verfahren herantragen zu können (hier etwa im Rahmen verspätet erhobener, allenfalls auch unvollständiger Nichtigkeitsbeschwerden oder im Wege eines Fristerstreckungsantrages), entspricht nach dem Gewicht des drohenden Nachteils jenen Umständen, aus denen der Verfassungsgerichtshof schon bisher die Beschreitung des an sich zur Verfügung stehenden anderen Weges für unzumutbar erachtet hat (vgl. VfSlg. 11853/1988 und 12379/1990).
Die sich aus Gründen des Zeitablaufes möglicherweise ergebende Zielverfehlung eines Individualantrages vermag an dessen Zulässigkeit nichts zu ändern.
Unzulässigkeit des Individualantrags zu G166/99 hinsichtlich der zweiwöchigen Frist zur Gegenäußerung zum Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft.
Ob sich diese Frist überhaupt je auf den Erstantragsteller unmittelbar auswirken wird, hängt davon ab, ob die Staatsanwaltschaft das angemeldete Rechtsmittel tatsächlich ausführen wird. Bedarf es aber noch eines Willensentschlusses einer von den Antragstellern verschiedenen Institution in der Frage, ob das angemeldete Rechtsmittel überhaupt ausgeführt und die bekämpfte zweiwöchige Frist in Gang gesetzt wird, so kann insoweit nicht davon gesprochen werden, daß der Erstantragsteller von der zweiwöchigen Frist zur Gegenäußerung zum gegenwärtigen, vor der Urteilszustellung im Strafprozeß liegenden Zeitpunkt bereits aktuell betroffen wäre.
Die beiden Wortfolgen "binnen vier Wochen" in §285 Abs1 erster Satz StPO idF BGBl. Nr. 526/1993 werden aufgehoben.
Die in Art6 Abs3 EMRK formulierten Verfahrensgarantien sind in jedem einzelnen Fall zu gewährleisten. Dem Erfordernis einer ausreichenden Zeit zur Vorbereitung der Verteidigung kann daher nicht damit begegnet werden, daß es sich beim hier in Rede stehenden Strafverfahren um einen besonderen Extremfall und damit Einzelfall handelt bzw. daß allenfalls die Zahl jener Strafverfahren gering ist, in denen aufgrund des Verhandlungsstoffes die vierwöchige Frist zur Ausführung einer Nichtigkeitsbeschwerde nicht ausreichen würde. Eine (an sich zulässigerweise) am Regelfall orientierte gesetzliche Bestimmung ist vielmehr unter diesen Aspekten auch dann wegen Verstoßes gegen Art6 EMRK verfassungswidrig, wenn sie für einen solchen besonderen Extremfall keine Ausnahmemöglichkeit zur Sicherstellung der in Rede stehenden Verfahrensgarantie bereithält.
Den Sitz der Verfassungswidrigkeit erachtet der Verfassungsgerichtshof nicht in §6 Abs1 erster Satz StPO gelegen, zumal diese Regelung nicht bloß für Rechtsmittelfristen gilt und eine Verlängerbarkeit gesetzlicher Fristen im Strafprozeß auch nach Art6 EMRK an sich nicht geboten ist. Es ist die uneingeschränkte Maßgeblichkeit der Frist des §285 Abs1 StPO auch in Extremfällen, die den Verfassungsverstoß bewirkt.
Daher Abweisung der Anträge hinsichtlich §6 Abs1 StPO.
Durch die Fristsetzung bis 30.06.01 wird bis zur erforderlichen Neuregelung durch den Gesetzgeber die ordnungsgemäße Durchführung von Strafverfahren nicht in Frage gestellt. Es war aber sicherzustellen, daß die aufgehobene Bestimmung im Strafverfahren 35 Vr 3036/95, Hv 22/95 des Landesgerichtes Salzburg nicht mehr angewendet werden darf. Damit wird für dieses Verfahren die Möglichkeit zur richterlichen Festlegung einer den Anforderungen des Art6 Abs3 litb EMRK genügenden Frist zur Ausführung aller angemeldeten Nichtigkeitsbeschwerden eröffnet.
Entscheidungstexte
Schlagworte
Strafprozeßrecht, Rechtsmittel, Urteil, VfGH / Aufhebung Wirkung, VfGH / Fristsetzung, VfGH / IndividualantragEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2000:G151.1999Dokumentnummer
JFR_09999684_99G00151_01