RS Vfgh 2000/6/21 B578/00

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Veröffentlicht am 21.06.2000
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Index

27 Rechtspflege
27/01 Rechtsanwälte

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Verwaltungsakt
B-VG Art18 Abs1
B-VG Art83 Abs2
B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
EMRK 7. ZP Art4
EMRK Art6 Abs1 / Verfahrensgarantien
EMRK Art6 Abs3 litd
DSt 1990 §1 Abs1
DSt 1990 §16 Abs6
DSt 1990 §28
DSt 1990 §32 Abs1
DSt 1990 §36 Abs2
StGB §11
StGB §287

Leitsatz

Keine Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte durchdie Streichung eines Rechtsanwaltes von der Liste der Rechtsanwälteaufgrund von - teilweise auch strafrechtlich bereits abgeurteilten -Sittlichkeitsdelikten gegen jugendliche Mädchen; keine Bedenken gegendie disziplinarrechtlichen Grundlagen dieser Maßnahme; keineUnsachlichkeit und keine Verletzung des Determinierungsgebotes; keineVerletzung des Rechts auf ein faires Verfahren und auf eineöffentliche Verhandlung; kein Verstoß gegen dasDoppelbestrafungsverbot

Rechtssatz

Kein Verstoß gegen die Verfahrensgarantien des Art6 Abs1 EMRK.

Das künftige Erkenntnis des Disziplinarrates wird durch den Einleitungsbeschluß in keiner Weise präjudiziert (vgl VfSlg 12962/1992, 13731/1994), sodaß aus der Mitwirkung an einem solchen Beschluß nicht auf die Befangenheit der Mitwirkenden in der Hauptsache geschlossen werden kann. Es gibt daher keine Grundlage für die Ansicht, daß jene Mitglieder des Disziplinarrates, die an der Fassung des Einleitungsbeschlusses teilgenommen haben, aus Sicht des Art6 EMRK von der Entscheidung in der Disziplinarsache in erster (bzw zweiter) Instanz auszuschließen sind (VfSlg 13731/1994).

Die Öffentlichkeit des Verfahrens muß nur vor dem die Tat- und Rechtsfrage entscheidenden Gericht (Tribunal) gegeben sein (vgl EGMR 23.02.94, Fredin gg Schweden, ÖJZ 1994, 565 mit weiteren Hinweisen auf die Rechtsprechung; Mayer, B-VG2 Art6 EMRK, D.II.1.) Der Disziplinarrat stellt aber - im Gegensatz zur OBDK - kein Tribunal iSd Art6 EMRK dar.

Die OBDK war im Zeitpunkt ihrer Entscheidung in Kenntnis des unter den Garantien des Art6 EMRK stehenden gerichtlichen Wiederaufnahmeverfahrens und damit auch in Kenntnis der Ergebnisse der medizinischen Gutachten (vgl Begründung des angefochtenen Bescheides, S 9 f). Es kann ihr unter dem Blickwinkel des Art6 Abs1 iVm Abs3 litd EMRK nicht vorgeworfen werden, wenn sie eine neuerliche Beweisaufnahme zum Beweisthema - gesundheitliche Beeinträchtigung des Beschwerdeführers und deren Einfluß auf seine Dispositions- und Diskretionsfähigkeit - als für die Entscheidungsfindung nicht mehr notwendig erachtete und die zeugenschaftliche Einvernahme der genannten Personen ohne Angabe von Gründen verweigerte (vgl EGMR 07.07.89, Bricmont GH 158, 31 Ziff 39).

Wenn die OBDK im vorliegenden Fall, trotz des entgegengerichteten Antrages des Beschwerdeführers, von einer öffentlich abgehaltenen Verhandlung Abstand genommen hat, kann sie sich in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise auf den gesetzlichen Rechtfertigungsgrund "aus Gründen der Sittlichkeit" berufen.

Keine Verletzung des Doppelbestrafungsverbotes durch disziplinarrechtliche Verurteilung eines bereits strafgerichtlich verurteilten Rechtsanwaltes (siehe E v 24.06.99, B191/99 und E v 04.10.99, B2447/97).

Es liegt im legitimen Interesse der Standesbehörde, wenn sie den Beschwerdeführer auch für jene Handlungen, die zwar vor dem Straflandesgericht Leoben nicht zu einem Schuldspruch geführt haben, in disziplinarrechtlicher Hinsicht für schuldig erkannte, weil jede einzelne dieser Handlungen zweifelsfrei geeignet war, "Ehre und Ansehen des Standes" zu beeinträchtigen (siehe auch E v 21.06.00, B347/99).

Keine Verletzung im Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter durch nicht im Einleitungsbeschluß enthaltene Schuldvorwürfe im Disziplinarurteil.

Der Beschwerdeführer wurde mit den in den Fakten 4 - 8 des Schuldspruchs enthaltenen Vorwürfen in der mündlichen Verhandlung vom 30.09.98 konfrontiert, sodaß die Information des Beschwerdeführers unter dem Aspekt des Art83 Abs2 B-VG rechtzeitig erfolgte. Es wurde nicht ohne entsprechende Anschuldigung entschieden.

Keine Willkür.

§16 Abs6 DSt 1990 räumt den Disziplinarbehörden bei der Festlegung der Strafe (Auswahl-)Ermessen ein, wobei insbesondere ua auch die Größe des Verschuldens Berücksichtigung finden soll. Die belangte Behörde ging davon aus, daß Störungen im Sinn des §11 StGB beim Beschwerdeführer nicht vorlagen. Laut Begründung des angefochtenen Bescheides war auch das "Vorliegen eines qualitativ oder quantitativ abnormen Rauschzustandes" iSd §287 StGB für die Tatzeitpunkte auszuschließen; es sei zwar durch die im Zuge des strafgerichtlichen Wiederaufnahmeverfahrens nachgewiesenen Persönlichkeitsstörungen das Dispositionsvermögen des Beschwerdeführers zu den Tatzeitpunkten mittelgradig eingeschränkt, keinesfalls jedoch aufgehoben gewesen.

Die belangte Behörde hat jedenfalls keinen Ermessensexzeß und damit keinen so schweren Fehler begangen, daß ihr Bescheid wegen gehäuften Verkennens der Rechtslage mit Willkür belastet wäre. Da es für die Frage, welche Strafe zu verhängen ist, allein auf das Ermessen der Disziplinarbehörden im Einzelfall ankommt - wobei die Behörde an die Kriterien des §16 Abs6 DSt 1990 gebunden ist -, ist auch der Versuch eines Nachweises einer tendenziell strengeren Bestrafung von beruflichem gegenüber außerberuflichem Fehlverhalten von Rechtsanwälten durch die OBDK nicht geeignet, der Behörde Willkür nachzuweisen.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Rechtsanwälte Disziplinarrecht, Strafen, Zusammentreffenstrafbarer Handlungen, Strafrecht, fair trial,Öffentlichkeitsprinzip, Befangenheit

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2000:B578.2000

Zuletzt aktualisiert am

13.08.2010
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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