RS Vfgh 2000/12/12 G97/00

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Veröffentlicht am 12.12.2000
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Index

L8 Boden- und Verkehrsrecht
L8200 Bauordnung

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art18 Abs1
Wr BauO 1930 §1 Abs2 Z14
Wr BauO 1930 §75 Abs9
Wr BauO 1930 §70a

Leitsatz

Verfassungswidrigkeit der Ausgestaltung des vereinfachten Baubewilligungsverfahrens in der Wr BauO 1930 wegen Widerspruchs zum Gleichheitssatz und zum Rechtsstaatsprinzip; unzulässige Vorwegnahme der baubehördlichen Entscheidung durch Erklärung des Ziviltechnikers in bestimmten Fällen; unsachliche Beschränkung der Parteistellung des Nachbarn; Unsachlichkeit der Regelung über die Zulässigkeit der Überschreitung der im Bebauungsplan festgelegten Gebäudehöhe

Rechtssatz

§70a Wr BauO 1930 idF LGBl 40/1997 war verfassungswidrig.

Die Ausgestaltung des vereinfachten Baubewilligungsverfahrens widerspricht dem Gleichheitssatz und dem Rechtsstaatsprinzip.

Das Rechtsstaatsprinzip erfordert es, dass nicht der Ziviltechniker die Entscheidung, ob eine Bauführung wegen Übereinstimmung mit den zwingenden Bestimmungen des Baurechts öffentlich-rechtlich zu gestatten ist, bereits durch seine Erklärung vorwegnimmt, sondern die Baubehörde diese Entscheidung trifft.

Die Baubehörde ist bloß verpflichtet, die Übereinstimmung mit den in §70a Abs3 Z1 bis Z7 Wr BauO genannten Bestimmungen bzw deren Einhaltung zu überprüfen. Eine weiter gehende Verpflichtung zur Überprüfung des Projektes ist der Baubehörde nicht aufgetragen.

Halten sich die Baupläne nicht an zwingende Bauvorschriften, die nicht im §70a Abs3 Wr BauO genannt sind, so erlaubt §70a Abs4 Wr BauO auch nicht die Untersagung der Bauführung. In diesen Fällen ist es also der Baubehörde verwehrt, die Entscheidung in Richtung Untersagung der Bauführung zu treffen.

Wenn die Baubehörde aber keine Möglichkeit hat, ein allfälliges rechtswidriges Bauvorhaben zu versagen, so ist der Umstand, dass sich die Baubehörde entschlossen hat, eine rechtswidrige Bauführung nicht zu untersagen, einer Kontrolle im Instanzenzug und der nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts nicht mehr zugänglich.

Die im §137 Wr BauO vorgesehene Möglichkeit, gemäß §70a Abs9 erster Satz Wr BauO fingierte Baubewilligungsbescheide für nichtig zu erklären, bietet der Baubehörde keine ausreichende Gewähr dafür, dass gesetzwidrige Bauführungen verhindert werden, weil die Befugnisse der Oberbehörde zur Nichtigerklärung beschränkt sind.

Um die Unabhängigkeit des die Erklärung abgebenden Ziviltechnikers sicherzustellen, hätte es einer entsprechenden klaren Regelung in der Wiener Bauordnung bedurft.

Aus §14 Abs2 Z1 ZiviltechnikerG lässt sich das Verbot, eine Erklärung gemäß §70a Abs1 Wr BauO zu eigenen Bauplänen abzugeben, nicht zwingend ableiten.

Der Hinweis auf Strafsanktionen und Disziplinarmaßnahmen vermag an dem sich aus dem Rechtsstaatsgebot ergebenden Erfordernis der Unabhängigkeit jenes Organs, das ein Gutachten zur Frage der Übereinstimmung eines Bauvorhabens mit bautechnischen Bestimmungen erstattet, nichts zu ändern.

§70a Abs7 Wr BauO gewährt dem Nachbarn das Recht, nachträglich Einwendungen zu erheben, nur bis längstens drei Monate nach dem angezeigten Baubeginn.

Indem der Gesetzgeber den Beginn der Einwendungsfrist für den Nachbarn an den Zeitpunkt der Anzeige des Baubeginns geknüpft hat, hat er in einer das Sachlichkeitsgebot verletzenden Weise an einen untauglichen Zeitpunkt angeknüpft.

Das subjektive Recht auf Akteneinsicht ist unabdingbare Voraussetzung für die Erhebung zulässiger und sinnvoller Einwendungen des Nachbarn und damit für die Erlangung der Parteistellung.

Um den Nachbarn, der erst mit der Erhebung von Einwendungen Parteistellung erlangt, vor Eingriffen in seine Rechtsposition ausreichend zu schützen, hätte es daher einer - über §17 Abs1 erster Satz AVG hinaus (und innerhalb der Grenzen des Art20 Abs3 B-VG und des §1 DSG) - klaren Regelung bedurft, dass dem Nachbarn das subjektive Recht auf Akteneinsicht zur Erhebung von Einwendungen zur Erlangung der Parteistellung im Sinne des §70a Abs7 Wr BauO zusteht.

§75 Abs9 Wr BauO 1930 idF LGBl 40/1997 (betr Zulässigkeit der Überschreitung der im Bebauungsplan festgelegten Gebäudehöhe) wird als verfassungswidrig aufgehoben.

Für eine Differenzierung zwischen Gebäuden, die der Regelung des §75 Abs9 Wr BauO unterliegen und anderen Gebäuden besteht keine sachliche Rechtfertigung. Es ist unsachlich, wenn §75 Abs9 Wr BauO auf einen fiktiven Neubau abstellt, der ausschließlich Wohnungen und eine durchgehende Geschosshöhe von 2,8 m aufweist.

Die für die Sachlichkeit der Regelung ins Treffen geführte Begründung, durch Überschreiten der Mindestraumhöhe ein qualitätvolleres Wohnen sicherzustellen, ist nicht geeignet, das aufgezeigte Ziel zu erreichen. Denn die Bestimmung ermöglicht die Beibehaltung einer lichten Höhe von mindestens 2,50 m und erlaubt unter Ausnutzung der Überschreitung der zulässigen Gebäudehöhe um 1,5 m zwar kein zusätzliches Hauptgeschoss, aber die Errichtung von zusätzlichen Nebengeschossen.

Der Gesetzgeber hat ohne Bedachtnahme auf das Ziel des §1 Abs2 Z14 Wr BauO eine gegenüber dem Bebauungsplan höhere Gebäudehöhe generell zugelassen und damit - ohne dass dafür eine sachliche Rechtfertigung erkennbar wäre - inhaltlich eine Abänderung der im Bebauungsplan festgelegten zulässigen Gebäudehöhe verfügt. Frühere Flächenwidmungsplanungen werden durch diese Regelungen insofern unterlaufen, als sie seinerzeit unter einem gesetzlichen Regime erfolgt sind, welches diese Möglichkeit nicht vorgesehen hat.

(Anlassfall: B2284/98, E v 13.12.00, Aufhebung des angefochtenen Bescheides; Quasianlassfälle: B163/00, B696/00, B730/00, alle E v 14.12.00, sowie B1077/99 ua, E v 14.12.00 - im Übrigen Ablehnung der Beschwerdebehandlung).

Entscheidungstexte

Schlagworte

Baurecht, Baubewilligung, Bebauungsplan, Nachbarrechte, Bindung (der Verwaltungsbehörden an Prüfungsergebnisse), Rechtsschutz, Rechtsstaatsprinzip, Verwaltungsverfahren, Akteneinsicht, Sachverständige, Parteistellung Baurecht

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2000:G97.2000

Dokumentnummer

JFR_09998788_00G00097_01
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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