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25 Strafprozeß, StrafvollzugNorm
B-VG Art7 Abs1 / GesetzLeitsatz
Keine Verletzung der Verfahrensgarantien und Anforderungen hinsichtlich der Nachprüfung von Entscheidungen durch ein übergeordnetes Gericht in der Europäischen Menschenrechtskonvention durch Ausschluß eines Rechtsmittels für die Wiederaufnahme bewilligende Beschlüsse eines Bezirksgerichts in der Strafprozeßordnung; keine unsachliche, die Waffengleichheit verletzende Differenzierung zwischen Ankläger und Angeklagtem; Verstoß der geprüften Regelung gegen das Rechtsstaatsprinzip; Verletzung des Grundsatzes "ne bis in idem" aufgrund möglicher Durchführung einer neuen Hauptverhandlung infolge der Wiederaufnahme; einseitige Belastung des Rechtsschutzsuchenden mit den Folgen einer potentiell rechtswidrigen Entscheidung auch nicht vorübergehend zulässigRechtssatz
Zulässigkeit eines Gesetzesprüfungsantrags auf Aufhebung des dritten Satzes des §480 StPO; zulässiger Umfang des Antrags.
Zur Bereinigung der Rechtslage im Falle der Aufhebung ist die Prüfung des gesamten dritten Satzes jedenfalls erforderlich, da gerade dieser Satz bewirkt, daß das gem. §481 StPO ansonsten gegen Entscheidungen des Bezirkgerichtes, gegen die nicht berufen werden kann, zustehende Rechtsmittel der Beschwerde ausgeschlossen ist.
Im übrigen weist der Verfassungsgerichtshof darauf hin, daß bei Aufhebung der Wortfolge "Verweigerung der" der solcherart verbleibende dritte Satz des §480 StPO vor dem Hintergrund der Regelung des §481 StPO eine mißverständliche Bedeutung hätte.
Kein Widerspruch des §480 dritter Satz StPO zu Art6 Abs1 und Art2 7.
ZP EMRK.
Der Verfassungsgerichtshof geht - in Übereinstimmung mit dem antragstellenden Gericht - davon aus, daß zwar gem. §481 StPO "den Beteiligten" gegen Entscheidungen des Bezirksgerichtes, insofern sie der Berufung nicht unterliegen, das Rechtsmittel der Beschwerde an den Gerichtshof erster Instanz binnen vierzehn Tagen zusteht, der zur Prüfung gestellte dritte Satz des §480 StPO diesen Grundsatz in Wiederaufnahmssachen jedoch auf Beschlüsse einschränkt, mit denen die Wiederaufnahme verweigert wird.
Schon der Wortlaut des Art6 Abs1 EMRK und des Art2 7. ZP EMRK schließt ihre Anwendbarkeit auf ein Verfahren, in dem über die Wiederaufnahme eines bereits abgeschlossenen Verfahren entschieden wird, aus: In einem Wiederaufnahmeverfahren wird nämlich nicht über die bereits entschiedene "Sache" geurteilt, sondern nur darüber entschieden, ob das schon beendete Verfahren neu durchzuführen ist.
Für die Annahme einer Lücke, die einen Größenschluß im Sinne der Anwendbarkeit der Art6 EMRK und Art2 des 7. ZP zur EMRK auch auf ein Wiederaufnahmeverfahren erlauben würde, gibt es keinen Anhaltspunkt. Die Europäische Menschenrechtskommission hat daher wiederholt ausgesprochen, daß Art6 EMRK auf Wiederaufnahmeverfahren nicht zur Anwendung kommt.
Keine Gleichheitswidrigkeit des §480 dritter Satz StPO.
Die Differenzierung des Gesetzgebers erfolgt nicht in unsachlicher, die Waffengleichheit verletzender Weise zwischen (Privat-)Ankläger und Angeklagten (Freigesprochenen) im Strafprozeß, sondern zwischen der jeweiligen Entscheidung des Bezirksgerichtes: Bei Beschlüssen, mit denen ein Antrag auf Wiederaufnahme abgewiesen wurde, steht demjenigen, der eine neuerliche Durchführung des Strafprozesses anstrengt, das Rechtsmittel der Beschwerde zu - dies kann sowohl der (Privat-)Ankläger bei erfolgtem Freispruch, als auch der Verurteilte sein, der einen Freispruch erwirken möchte. Im gegenteiligen Fall, nämlich der Bewilligung der Wiederaufnahme, ist aber sowohl dem (Privat-)Ankläger, als auch dem bereits Freigesprochenen, dessen Verfahren wiederholt werden soll, das Rechtsmittel der Beschwerde an den übergeordneten Gerichtshof verwehrt.
Die unterschiedliche Ausgestaltung des Rechtsschutzes des §393a (Rechtsmittel des Freigesprochenen gegen Beschluß betreffend Festsetzung des Pauschalbeitrages zu den Kosten der Verteidigung) und §480 dritter Satz StPO bewirkt, da dem nochmals Angeklagten gegen das Urteil in der Hauptsache ja alle Rechtsschutzmöglichkeiten offenstehen, keine Unsachlichkeit des Rechtsmittelausschlusses in §480 dritter Satz StPO.
Der dritte Satz des §480 StPO 1975, BGBl. Nr. 631/1975, wird als verfassungswidrig aufgehoben.
Die Verfassungsrang genießende Bestimmung des Art4 Z1 des 7. ZP zur EMRK verbietet nicht nur, jemanden nach Verurteilung oder Freispruch neuerlich zu verurteilen, sondern bereits ihn vor Gericht zu stellen, wenn nicht die Voraussetzungen einer Wiederaufnahme des Verfahrens im Sinne der Z2 vorliegen.
Wenn daher - wie im Falle der Wiederaufnahme eines bezirksgerichtlichen Strafverfahrens - ein Grundrecht betroffen ist und - gegebenenfalls - schon durch die Verfügung der Wiederaufnahme eines bezirksgerichtlichen Strafverfahrens (wegen der möglichen Folge der Durchführung einer neuerlichen Hauptverhandlung in derselben Sache) seine Verletzung "vertretbarer Weise behauptet werden kann" (vgl. EGMR 6.9.1978, Klass, EuGRZ 1979,278; 25.3.1983, Silver, EuGRZ 1984, 147), so muß dem solcherart (potentiell) Verletzten eine wirksame Beschwerde eingeräumt sein, worunter eine Beschwerde zu verstehen ist, mit welcher die behauptete Grundrechtsverletzung sachlich geprüft und ihr gegebenenfalls abgeholfen kann.
Unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten, wie in der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes in anderem Zusammenhang ausgesprochen wurde, geht es daher nicht an, den Rechtsschutzsuchenden generell einseitig mit den Folgen einer potentiell rechtswidrigen gerichtlichen Entscheidung auch nur vorübergehend zu belasten.
Kein übermäßiger Verfahrensaufwand für die Gerichtshöfe erster Instanz.
Auch im bezirkgerichtlichen Verfahren können Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr verhängt werden (§9 Abs1 Z1 StPO) und die Verfahrensgarantien der EMRK sind im gerichtlichen Strafverfahren ohne Einschränkung auf bestimmte Verfahrensarten zu gewährleisten.
Schlagworte
Rechtsschutz, Rechtsstaatsprinzip, Strafprozeßrecht, Wiederaufnahme, VfGH / Prüfungsumfang, ne bis in idemEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2001:G108.2001Dokumentnummer
JFR_09989371_01G00108_01