RS Vfgh 2001/9/26 G139/00 ua

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Veröffentlicht am 26.09.2001
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Index

41 Innere Angelegenheiten
41/02 Staatsbürgerschaft, Paß- und Melderecht, Fremdenrecht

Norm

B-VG Art6 Abs3
B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art11 Abs2
B-VG Art18 Abs1
EMRK Art8
AVG §39 Abs1
AVG §46
MeldeG 1991 §1 Abs7
MeldeG 1991 §17 Abs3 idF HauptwohnsitzG BGBl 505/1994

Leitsatz

Keine Verfassungswidrigkeit der Beschränkung der Beweismittel bei der Ermittlung des Hauptwohnsitzes im Meldegesetz; kein Fall der Bedarfsgesetzgebung; sachliche Rechtfertigung auch im Hinblick auf den Schutz der Privatsphäre und des Datenschutzes; kein Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip

Rechtssatz

Keine Verfassungswidrigkeit des §17 Abs3 MeldeG 1991 idF HauptwohnsitzG BGBl 505/1994.

Keine "abweichende Regelung" iS der Bedarfskompetenz des Art11 Abs2

B-VG.

Verwaltungsvorschriften, die aufgrund des §39 AVG "Priorität" gegenüber allfälligen Regelungen des AVG genießen, sind keine "abweichende(n) Regelungen" iS des Art11 Abs2 zweiter Halbsatz, bei denen zu prüfen wäre, ob sie "zur Regelung des Gegenstandes erforderlich" sind.

Weil es sich somit bei §17 Abs3 MeldeG 1991 um keine Regelung handelt, deren verfassungsrechtliche Zulässigkeit im Lichte des Art11 Abs2 (zweiter Halbsatz) B-VG zu untersuchen wäre, ist auf die vom Verwaltungsgerichtshof in Hinblick auf diese Verfassungsnorm vorgebrachten Bedenken nicht einzugehen.

Sachliche Rechtfertigung der Beschränkung der Beweismittel in §17 Abs3 MeldeG 1991 idF HauptwohnsitzG BGBl 505/1994.

Das Reklamationsverfahren bezweckt nicht vorrangig die Durchsetzung subjektiver Rechte meldepflichtiger Einzelpersonen; vielmehr dient es primär der Klärung widerstreitender Interessen von Gebietskörperschaften. Für letztere ist es - in Anbetracht der vielfältigen Auswirkungen der Hauptwohnsitznahme auf öffentliche Belange (etwa in Zusammenhang mit dem Finanzausgleich oder der Mandatsverteilung nach Wahlen) sowie der geschützten Rechtspositionen der Gemeinden in deren eigenem Wirkungsbereich - von wesentlicher Bedeutung, daß die Benennung des Hauptwohnsitzes in Entsprechung der durch Art6 Abs3 B-VG (§1 Abs7 MeldeG 1991) normierten Kriterien stattfindet.

Das Ordnungsziel war in erster Linie, daß nur noch ein Hauptwohnsitz für jeden in Österreich niedergelassenen Bürger registriert wird. Der Gesetzgeber wollte zudem einem Meldepflichtigen - wenn er mehrere Wohnsitze hat und die objektiven Kriterien nach Art6 Abs3 B-VG bzw. §1 Abs7 MeldeG 1991 (ausnahmsweise) mehrfach zutreffen - grundsätzlich die Entscheidung überlassen, wo er seinen Hauptwohnsitz erklärt.

Im Zuge des Reklamationsverfahrens sind sowohl die betroffene Person selbst als auch - in gewissem Umfang - die Bürgermeister der am Verfahren beteiligten Gemeinden aufgerufen, jene Tatsachen offenzulegen, die zur Klärung der verfahrensgegenständlichen Frage erforderlich sind. Die in §17 Abs3 MeldeG 1991 normierte besondere Mitwirkungspflicht der Parteien schließt deren Verpflichtung ein, zu strittigen Umständen in Form verbindlicher und nachvollziehbarer Erklärungen und Erläuterungen Stellung zu nehmen. Sowohl die Vielfalt der auf diese Weise zu erlangenden Entscheidungsgrundlagen als auch der Umstand, daß sich in dem Verfahren typischerweise widerstreitende Auffassungen gegenüberstehen, legt den Schluß nahe, daß sich die zur Entscheidung berufene Behörde ein objektives, nicht von Einseitigkeit geprägtes Bild von der zu beurteilenden Sachlage machen kann. Es ist somit nicht davon auszugehen, daß - wie der Verwaltungsgerichtshof befürchtet - die Entscheidung "in unkontrollierbarer Weise sozusagen in den Händen bzw. in dem Vorbringen der Parteien" liegt und der Willkür Tür und Tor geöffnet ist.

Es mag zutreffen, daß die für die Abwicklung des Reklamationsverfahrens zuständigen Behörden in - gemessen an der Gesamtzahl der in Österreich meldepflichtigen Menschen - wenigen Einzelfällen eine Entscheidung zu treffen haben, obwohl die tatsächlichen Lebensverhältnisse im Sinne der Kriterien nach Art6 Abs3 B-VG bzw. §1 Abs7 MeldeG 1991 nur mangelhaft zu eruieren waren. Ein Gesetz ist jedoch nicht schon dann gleichheitswidrig, wenn sein Ergebnis nicht in allen Fällen als befriedigend angesehen wird (vgl. etwa VfSlg. 10.455/1985; 14.301/1995, S 504; 15.031/1997).

Der Gesetzgeber nimmt durch die Regelung des §17 Abs3 MeldeG 1991 bewußt Unschärfen in Kauf, um im gegebenen Zusammenhang bestimmte behördliche Vorgangsweisen hintanzuhalten, die bei Geltung des Prinzips der Unbeschränktheit der Beweismittel nach §46 AVG denkbar oder möglicherweise sogar geboten wären.

Insbesondere wollte der Gesetzgeber dabei möglicherweise unterlaufende unverhältnismäßige Eingriffe in den Schutzbereich des Art8 EMRK von vornherein ausschließen.

In diesem Zusammenhang ist auch auf den Umstand, daß gemäß §17 Abs3 MeldeG 1991 die am Reklamationsverfahren beteiligten Bürgermeister nur Tatsachen geltend machen dürfen, die sie in Vollziehung eines Bundes- oder Landesgesetzes ermittelt haben und die keinem Übermittlungsverbot unterliegen, hinzuweisen.

Der Verfassungsgerichtshof verkennt nicht, daß es sich bei der Festlegung des (einzigen) Hauptwohnsitzes im Sinne der Definition gemäß Art6 Abs3 B-VG (§1 Abs7 MeldeG 1991) um ein zentrales Ordnungskriterium handelt und daher zweifellos ein öffentliches Interesse daran besteht, zu Ergebnissen zu kommen, die den in diesen Normen enthaltenen Vorgaben (möglichst) entsprechen. Bei diesem Anliegen ist jedoch in Zusammenhang mit der verfassungsrechtlichen Beurteilung der Sachlichkeit der in Rede stehenden Regelung auch zu berücksichtigen, welche Mittel und Methoden zur umfassenden Erhellung der Lebensgewohnheiten eines Menschen in Frage kommen (könnten).

Es ist somit nicht unsachlich, wenn der Gesetzgeber - auch mit Blick auf das durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens - die sich aus der Beweismittelbeschränkung des §17 Abs3 MeldeG 1991 allenfalls ergebenden Unschärfen in Kauf genommen und auf die Ausschöpfung aller denkbaren Ermittlungsschritte verzichtet hat.

Beim Reklamationsverfahren gemäß §17 MeldeG 1991 handelt es sich um kein Rechtsschutzinstrument, sondern um ein Verfahren, im Zuge dessen lediglich die Richtigkeit einer von einem Meldepflichtigen vorgenommenen Erklärung seines Hauptwohnsitzes im öffentlichen Interesse zu hinterfragen ist.

Der Verfassungsgerichtshof ist der Auffassung, daß die von ihm entwickelten, aus dem Rechtsstaatsprinzip erfließenden Grundsätze auf dieses spezifische, nicht (vorrangig) im Interesse einzelner Rechtssubjekte, sondern im "gesamtstaatlichen" Interesse gelegene Verfahren nicht in der vom Verwaltungsgerichtshof angenommenen Form anzuwenden sind.

Entscheidungstexte

  • G 139/00 ua
    Entscheidungstext VfGH Erkenntnis 26.09.2001 G 139/00 ua

Schlagworte

Datenschutz, Kompetenz Bund - Länder, Bedarfskompetenz, Meldewesen, Rechtsstaatsprinzip, Verwaltungsverfahren, Beweise, Ermittlungsverfahren Amtswegigkeit, Mitwirkungspflicht der Parteien, Wohnsitz, Privat- und Familienleben

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2001:G139.2000

Dokumentnummer

JFR_09989074_00G00139_01
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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