RS Vfgh 2001/12/5 B4/01

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Veröffentlicht am 05.12.2001
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Index

90 Straßenverkehrsrecht, Kraftfahrrecht
90/01 Straßenverkehrsordnung 1960

Norm

EMRK Art6 Abs1 / Verfahrensgarantien
StGB §34 Abs2
StVO 1960 §5 Abs1
VfGG §88
VfGG §17a
VStG §19

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Entscheidung innerhalb angemessener Frist durch Strafausspruch und Kostenspruch einer Bestrafung wegen Lenkens eines PKW in einem durch Alkohol beeinträchtigten Zustand; verfassungswidrige Gesetzesanwendung durch Nichtberücksichtigung der überlangen Verfahrensdauer als Milderungsgrund bei der Strafbemessung; länger dauernde Belastung einzelner Gerichte kein Rechtfertigungsgrund für Verfahrensverzögerungen sondern struktureller Mangel; im Übrigen Abweisung der Beschwerde; teilweiser Zuspruch der Verfahrenskosten und der Eingabengebühr

Rechtssatz

Zur Rechtsprechung des EGMR zur Angemessenheit der Verfahrensdauer.

Nicht die Verfahrensdauer schlechthin führt zu einer Verletzung, sondern nur eine Verzögerung, die auf Versäumnisse staatlicher Organe zurückzuführen ist. Der Rechtsprechung des EGMR ist daher keine fixe Obergrenze für die Angemessenheit einer Verfahrensdauer zu entnehmen, ab deren Überschreitung jedenfalls eine Verletzung des Art6 Abs1 EMRK anzunehmen wäre. Aus der Gesamtschau der diesbezüglichen Rechtsprechung ergibt sich aber, daß Verfahren, die länger als 5 Jahre dauern, nur in seltenen Fällen als angemessen angesehen wurden (vgl. Thienel, ÖJZ 1993, 473).

Einrechnung der Beschwerdeverfahren vor Verwaltungsgerichten.

Eine differenzierte Haltung vertritt der EGMR hinsichtlich der Einrechnung von Verfahren vor Verfassungsgerichten. Wird im Zuge eines Zivil- oder Strafverfahrens ein Verfassungsgericht angerufen, berücksichtigt der EGMR das verfassungsgerichtliche Verfahren bei Beurteilung der Verfahrensdauer dann, wenn die Entscheidung des Verfassungsgerichts "materieller" Natur ist, dh. er prüft, ob sie Auswirkungen auf die letztlich ergehende Sachentscheidung haben kann.

Da dem Beschwerdeführer nicht angelastet werden kann, wenn er zur Durchsetzung seiner Rechte - erfolgreich - Rechtsmittel ergreift, und das Beschwerdeverfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof über eine Amtsbeschwerde des Bundesministers eingeleitet wurde, kann die Verfahrensverzögerung nicht der Sphäre des Beschwerdeführers zugerechnet werden.

Die ungewöhnliche Länge des Verfahrens ist daher allein auf das Handeln staatlicher Organe zurückzuführen.

Zu berücksichtigen ist weiters, daß der Beschwerdeführer durch die Dauer des Verfahrens einer besonderen Belastung dadurch ausgesetzt war, daß er wegen der besonderen Schwere des Verkehrsdeliktes nicht nur die Verurteilung zu einer erheblichen Geldstrafe, sondern als deren Folge auch die Entziehung seiner Lenkberechtigung zu erwarten hatte.

Da nach der Aktenlage weder Art und Umfang des Sachverhalts noch die zu beurteilenden Rechtsfragen die Behandlung dieser Rechtssache ungewöhnlich komplex oder schwierig erscheinen lassen und sich im vorliegenden Verfahren auch keine weiteren besondere Umstände ergeben haben, welche die Dauer des Verfahrens, im besonderen vor dem Verwaltungsgerichtshof, rechtfertigen könnten, ist die Dauer des Verfahrens von mehr als 6 Jahren und 4 Monaten nicht mehr als angemessen iSd. Art6 Abs1 EMRK zu qualifizieren.

Verfahrensverzögerungen, die auf eine länger andauernde Belastung einzelner Gerichte zurückzuführen sind, sind als ein struktureller Mangel der Gerichtsorganisation zu qualifizieren, der jedoch nicht als Rechtfertigungsgrund für Verfahrensverzögerungen gelten kann (EGMR 13.7.1983, Zimmermann und Steiner, EuGRZ 1983, 482; 29.5.1986, Deumeland, EuGRZ 1988, 20; 29.3.1989, Bock, A/150; 24.10.1989, H gg. Frankreich, EuGRZ 1987, 301); demgemäß obliegt es dem Gesetzgeber - wie dies auch der Verwaltungsgerichtshof seit Jahren einfordert -, entsprechende Abhilfemaßnahmen zu treffen (vgl. zuletzt den Tätigkeitsbericht des Verwaltungsgerichtshofes für das Jahr 2000).

Teilweiser Kostenzuspruch, da die Beschwerde nur teilweise (hinsichtlich Strafausspruch und Kostenausspruch) erfolgreich war; Zuspruch des halben Pauschalsatzes und der halben Eingabengebühr.

Entscheidungstexte

  • B 4/01
    Entscheidungstext VfGH Erkenntnis 05.12.2001 B 4/01

Schlagworte

Bescheid Trennbarkeit, Strafrecht, Strafbemessung, Straßenpolizei, Alkoholisierung, Verwaltungsstrafrecht, VfGH / Kosten, Verfahrensdauer überlange

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2001:B4.2001

Dokumentnummer

JFR_09988795_01B00004_01
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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