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L7 WirtschaftsrechtNorm
B-VG Art83 Abs2Leitsatz
Verletzung im Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter durch Zurückweisung von Anträgen betreffend den Widerruf einer Ausschreibung; Ablehnung der Sachentscheidung durch den Wiener Vergabekontrollsenat zu Unrecht aufgrund offenkundigen Widerspruchs zum Gemeinschaftsrecht; keine Anwendung und daher keine Präjudizialität von nationalen in offenkundigem Widerspruch zum Gemeinschaftsrecht stehenden NormenSpruch
Die beschwerdeführende Partei ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.
Der Bescheid wird aufgehoben.
Das Land Wien ist schuldig, den beschwerdeführenden Parteien zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.340,-- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Die Stadt Wien, Allgemeines Krankenhaus der Stadt Wien - Universitätskliniken, hat die Ausstattung des Allgemeinen Krankenhauses (AKH) mit einer IT-Lösung, welche die Krankenanstalt im medizinischen und pflegerischen Bereich unterstützt und den Bereich der Patientenverwaltung sowie die Unterstützung des Lehr- und Wissenschaftsbereiches abdeckt, als Dienstleistungsauftrag im Oberschwellenbereich ausgeschrieben. Mit Schreiben vom 16. Juli 2004 hat der Auftraggeber die Ausschreibung widerrufen.
2. Daraufhin stellte die nunmehrige beschwerdeführende Gesellschaft gemäß §97 Abs1 des Wiener Landesvergabegesetzes, LGBl. für Wien Nr. 36/1995 idgF (WLVergG), beim Wiener Vergabekontrollsenat einen Nachprüfungsantrag, in dem sie die Nichtigerklärung des Widerrufs vom 16. Juli 2004, in eventu die Feststellung der Rechtswidrigkeit des Widerrufs der Ausschreibung begehrte.
3. Mit Bescheid vom 24. August 2004 wies der Vergabekontrollsenat die Anträge zurück. Er begründete seine Entscheidung damit, dass §101 WLVergG eine abschließende Aufzählung jener rechtswidrigen Entscheidungen des Auftraggebers enthalte, die nichtig erklärt werden könnten. In §101 WLVergG nicht aufgezählte Entscheidungen des öffentlichen Auftraggebers, worunter auch eine Widerrufsentscheidung fällt, seien nach den Bestimmungen des WLVergG nicht anfechtbar.
Der Rechtsmittelrichtlinie 89/665/EWG komme keine unmittelbare Wirkung zu. Dies habe auch der Verwaltungsgerichtshof mehrmals ausgesprochen. Sodann heißt es im genannten Bescheid:
"Die Auslegung des nationalen Rechtes muss sich zwar soweit wie möglich am Wortlaut und Zweck der Richtlinie ausrichten. Sofern aber die nationalen Vorschriften - wie vorliegend - nicht in einer der Richtlinie entsprechenden Weise ausgelegt werden können, kann im Rahmen eines Verfahrens nach nationalem Recht lediglich der Ersatz des Schadens verlangt werden, der dadurch entstanden ist, dass die Richtlinie nicht innerhalb der vorgeschriebenen Frist entsprechend umgesetzt wurde. Dafür fehlt es aber an einer Kompetenz des VKS, weil diese Ansprüche vor den ordentlichen Gerichten geltend zu machen sind.
...
Im §99 Abs1 WLVergG ist klar und abschließend geregelt, welche Entscheidungen der Vergabekontrollsenat für nichtig erklären kann, soweit sie gegen die Bestimmungen des §101 WLVergG verstoßen."
4. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde nach Art144 B-VG an den Verfassungsgerichtshof. In dieser Beschwerde macht die beschwerdeführende Gesellschaft die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisten Rechts auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter geltend. Ferner regt sie an, hinsichtlich der in §99 Abs1 letzter Satz WLVergG enthaltenen Wortfolge "im Sinne des §101 WLVergG" sowie des gesamten §101 WLVergG ein Gesetzesprüfungsverfahren einzuleiten.
Sie begründet ihre Beschwerde damit, dass in gemeinschaftskonformer Auslegung der Rechtsmittelrichtlinie der Vergabekontrollsenat sich nicht für unzuständig hätte erklären dürfen.
5. Der Vergabekontrollsenat erstattete eine Gegenschrift, in der er die Begründung des angefochtenen Bescheides verteidigt.
6. Auch die Auftraggeberin verfasste als beteiligte Partei eine Äußerung, in der sie im Wesentlichen ausführt, warum nach ihrer Meinung die Rechtsmittelrichtlinie nicht unmittelbar anwendbar sei. Auch sei eine "richtlinienkonforme Interpretation des WLVergG" auf Grund des klaren Wortlautes nicht möglich. Dies zeige sich unter anderem auch an den Fristenbestimmungen des §98 WLVergG. Die §§99 und 101 WLVergG seien auch nicht verfassungswidrig, weil die allfällige Gemeinschaftsrechtswidrigkeit einer innerstaatlichen Norm nicht bedeute, dass sie auch verfassungswidrig sei. Andere Verfassungswidrigkeiten würden aber in der Beschwerde nicht behauptet.
II. Der Verfassungsgerichtshof hat zur - zulässigen - Beschwerde erwogen:
1. Dem Fall liegt folgende einfach-gesetzliche Regelung zu Grunde:
Gemäß §33 des Wiener Vergaberechtsschutzgesetzes (WVRG), LGBl. für Wien Nr. 25/2003, gelten für die am Tag des Inkrafttretens dieses Landesgesetzes bereits eingeleiteten Verfahren zur Vergabe von Aufträgen oder beim Vergabekontrollsenat anhängige Verfahren für das Nachprüfungsverfahren die Bestimmungen des Wiener Landesvergabegesetzes, LGBl. für Wien Nr. 36/1995, zuletzt geändert durch das Landesgesetz LGBl. für Wien Nr. 50/2000.
Das WVRG trat mit dem der Kundmachung folgenden Tag, somit mit 1. Juli 2003 in Kraft. Das Vergabeverfahren wurde vor diesem Tag eingeleitet, sodass der Vergabekontrollsenat für die Entscheidung der Rechtssache das WLVergG anzuwenden hatte.
§99 WLVergG regelt die Zuständigkeit des Vergabekontrollsenates. Nach den Worten "Der Vergabekontrollsenat ist auf Antrag zuständig:" folgt eine Aufzählung von Zuständigkeiten. Die Entscheidung des Auftraggebers, eine Ausschreibung zu widerrufen, fällt nicht darunter.
§101 WLVergG wird mit den Worten eingeleitet:
"Der Vergabekontrollsenat hat im Zuge eines Vergabeverfahrens ergangene Entscheidungen eines Auftraggebers für nichtig zu erklären, wenn ..."
Sodann folgt eine Aufzählung von verschiedenen Arten von Entscheidungen des öffentlichen Auftraggebers. Die Entscheidung des Auftraggebers, eine Ausschreibung zu widerrufen, fällt nicht darunter.
2. Auf Grund einer in einem anderen Verfahren erfolgten Vorlage des Bundesvergabeamtes führte der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) im Urteil vom 2. Juni 2005, Rechtssache C-15/04 - Koppensteiner, zur Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit der Art1 Abs1 und Art2 Abs1 Buchstabe b der Richtlinie 89/665/EWG (sog. Rechtsmittelrichtlinie) aus:
"38. Diese Bestimmungen der Richtlinie 89/665 sind unbedingt und hinreichend genau, um ein Recht für einen Einzelnen zu begründen, auf das sich dieser gegebenenfalls gegenüber einer Vergabebehörde wie der BIG berufen kann.
39. Das zuständige Gericht ist daher verpflichtet, die nationalen Vorschriften unangewendet zu lassen, die es daran hindern, die Verpflichtung aus den Art1 Absatz 1 und 2 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie 89/665 zu beachten."
Die im Urteil des EuGH zitierten Bestimmungen der Rechtsmittelrichtlinie ordnen an, dass die Mitgliedstaaten erforderliche Maßnahmen ergreifen müssen, um sicherzustellen, dass Entscheidungen der öffentlichen Auftraggeber in einem Nachprüfungsverfahren überprüft werden können. Die in der Randnummer 39 genannten Bestimmungen, nämlich Art1 Abs1 und Art2 Abs1 litb der Rechtsmittelrichtlinie, lauten:
"Art 1 (1) Die Mitgliedstaaten ergreifen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, daß hinsichtlich der in den Anwendungsbereich der Richtlinien 71/305/EWG, 77/62/EWG und 92/50/EWG (...) fallenden Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge die Entscheidungen der Vergabebehörden wirksam und vor allem möglichst rasch nach Maßgabe der nachstehenden Artikel, insbesondere von
Artikel 2 Absatz 7, auf Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht im Bereich des öffentlichen Auftragswesens oder gegen die einzelstaatlichen Vorschriften, die dieses Recht umsetzen, nachgeprüft werden können.
...
Art 2 (1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, daß für die in Artikel 1 genannten Nachprüfungsverfahren die erforderlichen Befugnisse vorgesehen werden,
...
b) damit die Aufhebung rechtswidriger Entscheidungen, einschließlich der Streichung diskriminierender technischer, wirtschaftlicher oder finanzieller Spezifikationen in den Ausschreibungsdokumenten, den Verdingungsunterlagen oder in jedem sonstigen sich auf das betreffende Vergabeverfahren beziehenden Dokument vorgenommen oder veranlaßt werden kann;"
Unter Hinweis auf Vorentscheidungen hat der EuGH wiederholt, dass die Entscheidung des Auftraggebers, die Ausschreibung zu widerrufen, in einem Nachprüfungsverfahren überprüft und gegebenenfalls aufgehoben werden können muss (Randnummer 30).
3. Das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird durch den Bescheid einer Verwaltungsbehörde verletzt, wenn die Behörde eine ihr gesetzlich nicht zukommende Zuständigkeit in Anspruch nimmt (zB VfSlg. 15.372/1998, 15.738/2000, 16.066/2001, 16.298/2001 und 16.717/2002) oder wenn sie in gesetzwidriger Weise ihre Zuständigkeit ablehnt, etwa indem sie zu Unrecht eine Sachentscheidung verweigert (z.B. VfSlg. 15.482/1999, 15.858/2000, 16.079/2001 und 16.737/2002).
Wie sich aus dem obgenannten Urteil des EuGH eindeutig ergibt, haben Vergabenachprüfungsbehörden nationales Recht, das einer Überprüfung des Widerrufs entgegensteht, unbeachtet zu lassen. Zwar hat der Verfassungsgerichtshof wiederholt entschieden, dass die Frage, ob eine Bestimmung des Gemeinschaftsrechts Vorrang vor innerstaatlichem Recht genießt, keine verfassungsrechtliche Frage ist (VfSlg. 15.215/1998 u.a.). Ist jedoch der Widerspruch zum Gemeinschaftsrecht offenkundig, so ist eine dem Gemeinschaftsrecht widersprechende Auslegung der belangten Behörde der Gesetzlosigkeit gleichzuhalten, und zwar auch dann, wenn sich die Offenkundigkeit erst während des Verfahrens vor dem Verfassungsgerichtshof zeigt (vgl. VfSlg. 15.448/1999).
Der angefochtene Bescheid, mit dem der beschwerdeführenden Gesellschaft zu Unrecht eine Sachentscheidung verweigert wurde, ist daher aufzuheben.
Auf Grund der offenkundigen Gemeinschafsrechtswidrigkeit sind Bestimmungen, die der Anfechtung von Widerrufsentscheidungen des öffentlichen Auftraggebers entgegenstehen, nicht präjudiziell, sodass dem Verfassungsgerichtshof die Einleitung eines Gesetzesprüfungsverfahrens verwehrt ist (VfSlg. 15.368/1998).
III. 1. Dies konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.
2. Die Kostenentscheidung gründet auf §88 VfGG. Im zugesprochenen Betrag ist € 180,-- Eingabengebühr und € 360,-- USt enthalten.
Schlagworte
EU-Recht Richtlinie, Rechtsschutz, Vergabewesen, VfGH / PräjudizialitätEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2005:B1330.2004Dokumentnummer
JFT_09949074_04B01330_00