TE Vfgh Erkenntnis 2005/9/27 B610/05

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Veröffentlicht am 27.09.2005
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Index

66 Sozialversicherung
66/01 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Verwaltungsakt
B-VG Art83 Abs2
EMRK Art6 Abs1 / Tribunal
ASVG §341 ff
ASVG §345

Leitsatz

Keine Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte durch neuerliche Abweisung des Antrags eines praktischen Arztes auf Auszahlung von Honoraranteilen aus einem Einzelvertrag durch die Gebietskrankenkasse nach aufhebendem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes; keine Verletzung im Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter durch verfassungswidrige Zusammensetzung der belangten Behörde; keine Willkür, keine denkunmögliche oder gleichheitswidrige Gesetzesauslegung durch die Versagung vorläufiger Honorarzahlungen bei offenbar unrichtiger Abrechnung; keine Bedenken gegen die Regelung über die Zusammensetzung der Landesberufungskommission, keine Zweifel an Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Mitglieder im konkreten Fall

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt worden.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Der Beschwerdeführer ist Arzt für Allgemeinmedizin und Notarzt mit Sitz in Niederösterreich; er hat mit der Niederösterreichischen Gebietskrankenkasse (im Folgenden: Gebietskrankenkasse) einen Einzelvertrag geschlossen.

Im November 1995 führte der Beschwerdeführer bei zwei Patienten Behandlungen durch, die jeweils zum Teil der Position 442 der Honorarordnung zum anzuwendenden Gesamtvertrag zuzuordnen sind. Die in dieser Position zusammengefassten Leistungen dürfen nach dieser Honorarordnung nur von Fachärzten für Augenheilkunde, Chirurgie, Laryngologie, Orthopädie und Unfallchirurgie verrechnet werden.

2. Mit Schriftsatz vom 2. Mai 1996 beantragte der Beschwerdeführer bei der paritätischen Schiedskommission für Niederösterreich, die Gebietskrankenkasse schuldig zu erkennen, das für die erwähnten Behandlungen verrechnete Honorar in Höhe von ATS 1770,-- (EUR 128,63) s.A. zu bezahlen.

Mit dem im Devolutionsweg (§345 Abs2 Z2 iVm §344 Abs3 ASVG) ergangenen Bescheid der Landesberufungskommission für Niederösterreich vom 11. Dezember 1996 wurde dieser Antrag abgewiesen.

Dieser Bescheid wurde vom Verfassungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 13. Oktober 1999, B1121/97, wegen Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz aufgehoben: Die Behörde hatte es nämlich unterlassen, die vom Beschwerdeführer in seinem Antrag relevierte Frage der Gültigkeit der in Rede stehenden Verrechnungsbeschränkung zu beurteilen, und so gegenüber dem Beschwerdeführer Willkür geübt.

3. Mit dem im zweiten Rechtsgang - nach durchgeführter öffentlicher Verhandlung - erlassenen Bescheid vom 10. Dezember 2004 wies die Landesberufungskommission für Niederösterreich den Antrag des Beschwerdeführers erneut ab.

Gegen diesen - keinem weiteren Rechtszug unterliegenden (vgl. §345 Abs3 iVm §346 Abs7 ASVG) - Bescheid richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde; darin behauptet der Beschwerdeführer, in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten sowie wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes (§345 Abs1 ASVG) in seinen Rechten verletzt zu sein, und beantragt, den angefochtenen Bescheid kostenpflichtig aufzuheben.

Die belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor, ohne eine Gegenschrift zu erstatten. Die beteiligte Gebietskrankenkasse erstattete eine schriftliche Äußerung; darin verteidigt sie den angefochtenen Bescheid und beantragt die Abweisung der Beschwerde.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Die Beschwerde rügt zunächst, dass die belangte Behörde bereits am 15. Mai 2002 über die Bescheidanträge des Beschwerdeführers entschieden habe, am 26. November 2003 jedoch - in geänderter Zusammensetzung - neuerlich zusammengetreten sei und beschlossen habe, das Verfahren neu durchzuführen. Die belangte Behörde sei vielmehr - so die Beschwerde - verpflichtet gewesen, die ursprünglich beschlossene Erledigung auszufertigen; auch habe die Behörde ihren Beschluss auf "Reassumierung" des Beschlusses vom 15. Mai 2002 rechtswidrigerweise nicht in ihrer Zusammensetzung von diesem Tag gefasst.

Mit diesem Vorbringen wird - der Beschwerde zuwider - keine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter dargetan:

Im vorliegenden Fall wurde zwar die Verhandlung vor der belangten Behörde in der Sitzung vom 15. Mai 2002 geschlossen; ein Bescheid wurde in weiterer Folge aber (vorerst) nicht erlassen. Einer Neudurchführung des Verfahrens, wie sie in der Verhandlung vom 26. November 2003 beschlossen wurde, stand daher nichts im Wege: Der am 15. Mai 2002 gefasste Beschluss stellte vielmehr bloß einen internen Akt der Willensbildung dar, an den die Behörde mangels einer dies vorsehenden gesetzlichen Bestimmung noch nicht gebunden war (vgl. VwGH 17. Juli 1997, 95/09/0062; siehe auch schon VfSlg. 2654/1954, S 79). Hinzu kommt, dass eine Neudurchführung des Verfahrens im vorliegenden Fall aus verfassungsrechtlicher Sicht geboten war, waren doch mit 1. September 2002 geänderte Bestimmungen über die Zusammensetzung der belangten Behörde in Kraft getreten (vgl. dazu VfSlg. 16.907/2003).

2. Eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz kann nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (zB VfSlg. 10.413/1985, 14.842/1997, 15.326/1998 und 16.488/2002) nur vorliegen, wenn der angefochtene Bescheid auf einer dem Gleichheitsgebot widersprechenden Rechtsgrundlage beruht, wenn die Behörde der angewendeten Rechtsvorschrift irrig einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt oder wenn sie bei Erlassung des Bescheides Willkür geübt hat.

Ein willkürliches Verhalten der Behörde, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außer-Acht-Lassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg. 8808/1980 mwN, 14.848/1997, 15.241/1998 mwN, 16.287/2001 16.640/2002).

Keiner dieser Mängel liegt hier vor:

2.1. Gemäß §32 Abs2 des anzuwendenden Gesamtvertrages sind "strittige" Honorarteile vom Versicherungsträger als vorläufige Zahlung anzuweisen; Honorarteile, die vom Schlichtungsausschuss (bzw. von der paritätischen Schiedskommission) rechtskräftig "gestrichen" worden sind, können bei der nächsten Honorarzahlung in Abzug gebracht werden.

Die Beschwerde wirft der belangten Behörde vor, dieser Bestimmung zu Unrecht einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt zu haben: Es könne nicht angehen, diese Bestimmung so auszulegen, dass es in das Belieben des Versicherungsträgers gestellt wäre zu entscheiden, ob einzelne Honorarteile strittig sind oder nicht; vielmehr sei das vom Arzt verrechnete Honorar diesem immer - vorerst - anzuweisen.

Die belangte Behörde hat §32 Abs2 des anzuwendenden Gesamtvertrages demgegenüber (der Sache nach) dahin ausgelegt, dass eine vorläufige Honorarzahlung dann nicht in Betracht kommt, wenn der Versicherungsträger - wie vorliegend - schon anhand der Abrechnung und der Honorarordnung ohne besonderen Aufwand nachweisen kann, dass die Abrechnung unrichtig ist. Diese Auffassung ist aber weder denkunmöglich, noch unterstellt sie der genannten Bestimmung einen gleichheitswidrigen Inhalt (vgl. Grillberger, in: Strasser [Hrsg.], Arzt und gesetzliche Krankenversicherung [1995] 378).

2.2. Der Beschwerdeführer wendet sich auch dagegen, dass er zwar verpflichtet sei, alle Leistungen zu erbringen, "die auf Grund der ärztlichen Ausbildung und der dem Vertragsarzt zu Gebote stehenden Hilfsmittel" durchgeführt werden können (so §9 Abs1 der vom Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger erlassenen Richtlinien über die ökonomische Krankenbehandlung - RöK), für diese Leistungen aber nicht entlohnt werde.

Die Beschwerde übersieht hier, dass die strittige "Fachgebietsbeschränkung" bloß den vertragsärztlichen Vergütungsanspruch gegenüber dem Versicherungsträger beschränkt, seinen Honoraranspruch gegenüber dem Versicherten aber unberührt lässt (vgl. OGH 5. Dezember 2000, 10 ObS 336/00k, mwN).

3.1. Nach Art6 Abs1 EMRK hat jedermann Anspruch darauf, dass seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Tribunal gehört wird, das über seine zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen zu entscheiden hat.

Der Verfassungsgerichtshof hat bereits wiederholt (zuletzt in seinem Erkenntnis vom 30. November 2004, B1121/04) dargelegt, dass Streitigkeiten aus einem Einzelvertrag zwar in den Kernbereich der von Art6 Abs1 EMRK erfassten "zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen" fallen, die (zur Entscheidung solcher Streitigkeiten in zweiter Instanz berufenen) Landesberufungskommissionen den Anforderungen des Art6 Abs1 EMRK jedoch grundsätzlich entsprechen (zur Unbedenklichkeit der Mitwirkung von Interessenvertretern an der Willensbildung dieser Behörden vgl. insbesondere VfSlg. 15.698/1999). Auch das - zur Gesetzeslage vor der 60. Novelle zum ASVG ergangene - Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 3. Februar 2005, Z58.141/00 Thaler/Österreich, steht dazu nicht im Widerspruch.

Da die Mitglieder der Landesberufungskommission in Ausübung ihres Amtes an keine Weisungen gebunden sind (vgl. §345 Abs3 iVm §346 Abs6 ASVG), könnte sich - wie der Verfassungsgerichtshof in den erwähnten Entscheidungen ausgeführt hat - ein Verstoß gegen Art6 Abs1 EMRK nur aus den besonderen Umständen des Einzelfalls ergeben, so etwa daraus, dass ein Mitglied am Zustandekommen des Gesamt- oder Einzelvertrages, dessen Gültigkeit oder Interpretation im Verfahren bestritten wird, mitgewirkt hat (vgl. VfSlg. 13.553/1993, 15.981/2000), oder sonst "besondere Umstände" vorliegen, welche die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des betreffenden Mitgliedes zur Entscheidung in bestimmten Rechtssachen mit Recht in Zweifel ziehen ließen.

Solche Umstände liegen hier nicht vor; sie könnten auch (entgegen der Beschwerde) nicht allein darin begründet sein, dass jene Ärztekammern und Versicherungsträger, denen die Beisitzer der belangten Behörde angehören, Gesamtverträge mit Bestimmungen geschlossen haben, die den im vorliegenden Fall strittigen gleichen.

3.2. Gemäß §345 Abs1 ASVG in der im vorliegenden Fall maßgebenden Fassung der 60. Novelle, BGBl. I Nr. 140/2002, bestehen die Landesberufungskommissionen aus einem (im Zeitpunkt seiner Bestellung bei einem Gerichtshof in Arbeits- und Sozialrechtssachen tätigen) Richter und vier Beisitzern. Je zwei Beisitzer sind vom Bundesminister für Justiz auf Vorschlag der Österreichischen Ärztekammer und des Hauptverbandes zu bestellen.

Die Beschwerde erblickt in dieser Regelung - gemessen an jener des §341 Abs1 ASVG, wonach Gesamtverträge vom Hauptverband mit den örtlich zuständigen Ärztekammern abzuschließen sind - eine sachlich nicht begründbare Ungleichbehandlung der Parteien des Gesamtvertrages: Es sei gleichheitswidrig, nur dem Hauptverband, nicht aber auch den örtlich zuständigen Ärztekammern ein Vorschlagsrecht für Beisitzer der Landesberufungskommissionen einzuräumen.

Diese Kritik entbehrt schon deshalb jeder Grundlage, weil der Hauptverband (entgegen der Beschwerde) nicht Partei des Gesamtvertrages ist, sondern bloß an dessen Abschluss mitzuwirken hat (vgl. VfGH 16. Juni 2005, B1219/04 mwN). Keiner der Parteien des Gesamtvertrages - weder dem zuständigen Träger der Krankenversicherung noch der örtlich zuständigen Ärztekammer - kommt daher ein Vorschlagsrecht für die Beisitzer der Landesberufungskommission zu; dieses liegt vielmehr allein beim jeweiligen "Dachverband", dh. beim Hauptverband und bei der Österreichischen Ärztekammer.

3.3. Der Verfassungsgerichtshof sieht sich aus den unter 3.1. und 3.2. angestellten Überlegungen nicht veranlasst, die Bestimmung des §345 Abs1 ASVG (idF der 60. Novelle) - wie in der Beschwerde angeregt - einem Gesetzesprüfungsverfahren zu unterziehen.

4. Die behaupteten Rechtsverletzungen liegen somit nicht vor. Das Verfahren hat auch nicht ergeben, dass der Beschwerdeführer in von ihm nicht geltend gemachten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten oder wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt worden wäre.

Die Beschwerde war daher abzuweisen.

Ob der angefochtene Bescheid in jeder Hinsicht dem Gesetz entspricht, ist vom Verfassungsgerichtshof nicht zu prüfen, und zwar auch dann nicht, wenn sich die Beschwerde - wie vorliegend - gegen den Bescheid einer sogenannten Kollegialbehörde mit richterlichem Einschlag richtet, der gemäß Art133 Z4 B-VG nicht mit Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof bekämpft werden kann (zB VfSlg. 3975/1961, 6760/1972, 7121/1973, 7654/1975, 9541/1982 mwN).

5. Dies konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.

Schlagworte

Kollegialbehörde, Sozialversicherung, Ärzte, Behördenzusammensetzung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2005:B610.2005

Dokumentnummer

JFT_09949073_05B00610_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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