RS Vfgh 2002/10/9 G112/02 ua

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Veröffentlicht am 09.10.2002
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Index

33 Bewertungsrecht
33/01 Bewertungsrecht

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art140 Abs1 / Prüfungsumfang
B-VG Art140 Abs3 erster Satz
B-VG Art140 Abs7 zweiter Satz
BewG 1955 §16 Abs2, Abs3
EStG 1988 §29 Z1
EStG 1988 §18

Leitsatz

Keine sachliche Rechtfertigung der Bewertung von Renten und der daraus resultierenden Einkommensteuerpflicht für Rentenbezüge aufgrund ungenügender Berücksichtigung demographischer Entwicklungen; Erfordernis der Vermeidung der Besteuerung bloßer Vermögensumschichtungen zur verfassungskonformen Gestaltung des Systems der Besteuerung privater Kaufpreisrenten; Erstreckung der Anlaßfallwirkung auf ein weiteres die Beschwerdeführerin betreffendes Steuerverfahren

Rechtssatz

Zulässigkeit des amtswegigen Verfahrens zur Prüfung des 4. Satzes des §29 Z1 EStG 1988 sowie des §16 Abs2 und Abs3 BewG 1955.

Abs3 des §16 BewG 1955 bildet mit dessen Abs2 eine untrennbare Einheit: Auch wenn Abs3 lediglich für die nicht laufend veranlagten Steuern von Bedeutung ist, bezieht er sich doch auf die nach Abs2 bewerteten Nutzungen oder Leistungen, verliert somit nach einer Aufhebung dieser Norm seinen Sinn; auch inhaltlich sind die in Abs3 festgelegten Jahresgrenzen nur im Hinblick auf die Vervielfacher des Abs2 verständlich und sinnvoll.

Aufhebung des Klammerausdrucks "(§16 Abs2 und 4 des Bewertungsgesetzes 1955)" im 4. Satz des §29 Z1 EStG 1988 idF BGBl I 106/1999 sowie des §16 Abs2 und Abs3 BewG 1955 idF BGBl 172/1971.

Das System der Besteuerung privater Kaufpreisrenten muß verfassungskonform so gestaltet sein, daß eine Besteuerung bloßer Vermögensumschichtungen vermieden wird.

Der Gesetzgeber darf zwar bei der Bewertung von Leibrenten für steuerliche Zwecke auch aus der Sicht der Verfassung gewiß einfach handhabbare Regelungen treffen. Er muß daher keine Bewertung nach versicherungsmathematischen Grundsätzen vorsehen, sondern darf auch pauschalierende, vergröbernde Regelungen treffen. Jedenfalls dann aber, wenn diese Bewertungsregeln auch für die Einkommensbesteuerung von Gegenleistungsrenten herangezogen werden, müssen sie so beschaffen sein, daß eine Steuerpflicht bloßer Vermögensumschichtungen vermieden wird.

Der Verfassungsgerichtshof vermag nicht zu erkennen, warum die Abzugsfähigkeit von Rentenzahlungen beim Rentenverpflichteten es rechtfertigen könnte, beim Rentenberechtigten Rentenzahlungen der Einkommensteuer zu unterwerfen, die noch gar kein Einkommen, sondern bloße Vermögensumschichtung darstellen. Wird dieser Effekt durch eine Anhebung der Barwertfaktoren vermieden, so hat das Korrespondenzprinzip, sofern es beibehalten wird, vielmehr automatisch zur Folge, daß dann auch die Abzugsfähigkeit der Rentenzahlungen gemäß §18 EStG 1988 entsprechend später einsetzt.

Sollte es zutreffen, daß bei höherem Lebensalter der dem §16 Abs2 BewG 1955 zugrundegelegte Zinssatz von 5,5 vH als zu hoch angesehen werden muß, somit der Barwertberechnung in solchen Fällen richtigerweise ein niedrigerer Zinssatz zugrunde zu legen wäre, so wäre die notwendige mathematische Folge, daß die Barwertfaktoren des §16 Abs2 BewG 1955 in höherem Lebensalter noch höher sein müßten.

Die Diskrepanz zwischen den Faktoren des §16 Abs2 BewG 1955 und den versicherungsmathematisch ermittelten Barwertfaktoren ist eine Konsequenz der demographischen Entwicklung der letzten Jahrzehnte. Solche Entwicklungen führen notwendigerweise dazu, daß die Grenze der zulässigen Pauschalierung irgendwann überschritten wird. Die derzeit gültige Barwerttabelle wurde auf Grund des BGBl 172/1971 in das BewG 1955 eingefügt und beruht auf den Sterbetafeln 1959/1961. Daß sich die demographische Entwicklung in den seither verstrichenen Jahrzehnten wesentlich verändert hat, ist notorisch und läßt sich auch aus den Barwerttabellen im Zeitablauf ersehen.

Der Verweis in §29 Z1 EStG 1988 auf §16 Abs2 und 4 BewG 1955 trägt nur deklaratorischen Charakter, weil auch bei Fehlen dieses Verweises auf Grund des §1 BewG 1955 die Bewertung von Leibrenten für Zwecke des §29 EStG 1988 mangels spezieller einkommensteuerrechtlicher Bewertungsvorschriften wiederum an Hand der allgemeinen Vorschriften des BewG 1955, somit nach §16 Abs2 leg.cit. vorzunehmen wäre. Zur Beseitigung der Verfassungswidrigkeit ist es daher erforderlich, die Bewertungsvorschrift selbst, somit den (eine Einheit bildenden) Abs2 des §16 BewG 1955 und den mit ihm untrennbar verbundenen Abs3 aufzuheben. Da nach einer solchen Aufhebung allerdings der Verweis des §29 Z1 EStG 1988 auf diese Vorschriften die Norm unvollziehbar machen würde, muß auch dieser Verweis eliminiert werden.

Im übrigen Einstellung des Verfahrens.

Der Verfassungsgerichtshof hat beschlossen, von der ihm gemäß Art140 Abs7 zweiter Satz B-VG eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen und - der Anregung der im Anlaßfall beschwerdeführenden Partei folgend - die Anlaßfallwirkung auch auf das sie betreffende Verfahren zur Festsetzung der Einkommensteuer 2002 zu erstrecken, da der maßgebende Besteuerungszeitraum nahezu abgeschlossen ist und die zur Entstehung der Steuerschuld führenden Sachverhaltselemente angesichts der besonderen Umstände des Falles bereits feststehen.

(Anlaßfall B1200/01, Quasianlaßfall B1494/01 ua, beide E v 12.10.02, Aufhebung der angefochtenen Bescheide).

Entscheidungstexte

  • G 112/02 ua
    Entscheidungstext VfGH Erkenntnis 09.10.2002 G 112/02 ua

Schlagworte

Bewertung, Renten, Einkommensteuer, Einkunftsarten, VfGH / Anlaßfall, VfGH / Anlaßverfahren, VfGH / Prüfungsumfang, VfGH / Verwerfungsumfang

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2002:G112.2002

Dokumentnummer

JFR_09978991_02G00112_01
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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